Süden und der Straßenbahntrinker
er bloß«, sagte er. Betrachtete die Salem-Schachtel, hustete und steckte sie wieder ein.
»Oder er hat eine miese Phase.«
»Oder er sucht Ansprache.«
»Hat er ja auch gefunden.«
Um ein Haar wären wir in die anfahrende Straßenbahn gelaufen. Der Fahrer schlug auf die Klingel, und wir blieben ruckartig stehen.
»Was hast du vor?«, fragte ich.
»Und du?«
Einige hundert Meter von uns entfernt befand sich das Rundfunkgebäude, und ich hatte die verrückte Idee hinzugehen.
»Nichts Spezielles«, sagte ich.
»Ich lüft mich aus«, sagte Martin. »Ich hab morgen Bereitschaft. Paul ist bei seiner Frau im Krankenhaus, er hat mich gebeten für ihn einzuspringen.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
»Am Telefon, es geht ihr nicht gut. Nein… er wollte nicht viel reden… Es ist…« Martin schüttelte den Kopf.
Seit zwei Monaten lag Elfriede Weber, die Frau unseres Kollegen Paul Weber, im Krankenhaus. Sie war ein paar Jahre jünger als er, Mitte fünfzig, ich wusste es nicht genau, und vor sechs Jahren musste sie schon einmal wegen eines Tumors im Darm operiert werden. Danach ging es ihr wieder gut, und sie brachte ihm regelmäßig Diätkuchen und Kräutertee ins Büro. Wenn ich den beiden zusah, wie sie miteinander umgingen, wie sie sich ungeniert an den Händen fassten und auf den Mund küssten, unbeschwert und innig, und wie sie ihr Zusammensein in winzigen Gesten feierten, dann kam ich mir jedes Mal wie ein verirrter Gast vor, der die verkehrte Tür geöffnet hatte.
Neben Weber, der ein bulliger Kerl mit einem breiten Gesicht ohne Konturen war, wirkte Elfriede graziös. Sie war klein und drahtig, hatte die dunklen Haare streng nach hinten gekämmt, was ihre Wangenknochen noch mehr betonte und ihr manchmal das Aussehen einer spanischen Tänzerin verlieh, besonders wenn sie auf der Weihnachtsfeier des Dezernats ihren schwergewichtigen Mann über das Parkett schob und in ihrem roten Kleid mit dem schwarzen, um die Hüften gebundenen Tuch ebenso anmutige wie expressive Bewegungen vollführte. Vor einem Vierteljahr hatten erneut die Untersuchungen begonnen, und vom ersten Tag an war in Webers Augen nichts als Entsetzen gewesen. Er sprach mit uns über seine Besuche im Schwabinger Krankenhaus, er bemühte sich, uns an seinem Schmerz teilhaben zu lassen, obwohl er wusste und obwohl wir wussten, dass es uns nicht gelingen würde ihn zu trösten.
»Können wir sie besuchen?«, fragte ich Martin.
»Ich glaube nicht«, sagte er.
Er sah sich um, als müsse er überlegen, welche Richtung er einschlagen solle, dann hob er die Hand.
»Ich melde mich«, sagte er.
»Ja«, sagte ich.
Er schlurfte über die Straße, die Hände in den Hosentaschen, gebeugt wie ein alter Mann.
Es hätte keinen Zweck gehabt ihn zu fragen, ob er mich begleiten wolle. Erstens war er längst entschlossen Lilo zu besuchen, und zweitens hätte er mir wegen meinem Vorhaben den Vogel gezeigt.
Ich musste es tun. Ich brachte das Bild der verletzten Frau auf der Wolldecke nicht aus dem Kopf und die Bemerkung eines Zeugen, der gesagt hatte: »Ich hab gedacht, der tritt ihr auch noch ins Gesicht.«
»Grüß Sie! Junginger. Wenn Sie bitte einfach mitkommen möchten!«
Wir gingen in den ersten Stock, einen schmalen Flur entlang, auf dem uns niemand entgegenkam, und blieben unter einem Schild stehen, auf dem stand: »Arztzimmer«. Horst Junginger öffnete eine Tür.
»Hier lang bitte!«
Wir betraten die Räume der Pressestelle des Bayerischen Rundfunks, eine Frau sah mich eindringlich an, und ich wollte sie schon fragen, was das Schild auf dem Gang zu bedeuten hatte, als Junginger die Tür zu seinem Büro hinter mir schloss und auf einen Stuhl zeigte.
»Einen Kaffee? Was anderes?«
»Nein«, sagte ich.
Er setzte sich hinter seinen extrem aufgeräumten Schreibtisch und faltete die Hände.
»Sie wollen etwas über Herrn Holzapfel wissen?«
Ich hatte dem Pförtner im Parterre erklärt, worum es ging, und nachdem er eine Weile überlegt hatte, wer dafür zuständig sein könnte, rief er in der Pressestelle an. Zufälligerweise war an diesem Samstag der Chef persönlich anwesend, und während ich auf ihn wartete, fragte mich der Pförtner, ob ich von der Mordkommission sei. Als ich erwiderte, ich würde auf der Vermisstenstelle arbeiten, meinte er: »Da kenn ich eine Geschichte…« Er war aber nicht weit gekommen mit seiner Geschichte, weil Junginger bereits eine Minute später erschien.
»Hat er hier im Haus gearbeitet?«, fragte ich.
»Ja«,
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