Süden und der Straßenbahntrinker
und etwas Macht und etwas Liebe und etwas Wut, und niemand wollte sich dabei stören lassen, und auch ich hatte kein Recht dazu.
Bevor sich meine Neugier und mein Mitgefühl ins Gegenteil verwandelten, wollte ich mich rechtzeitig von Holzapfel verabschieden. Stattdessen verabschiedete er sich von mir. Und zwar in Sekundenschnelle.
Mit einem röchelnden Seufzer riss er sich vom Anblick seines Wasserglases los, stieß die Tür zur Bahnhofshalle auf und verschwand im Durchgang zu den Gleisen.
Martin und ich machten einen relativ tölpelhaften Eindruck.
»Und wer zahlt jetzt seine zwei Wasser?«, fragte Susi.
Ich sagte: »Du nicht.«
»Danke«, sagte sie und nahm Martins leeres und Holzapfels halb volles Glas mit.
Ich setzte mich.
Wir schwiegen.
Wir schwiegen so lange, bis Susi die Geduld verlor.
»Das ist hier keine Wärmestube!«, blaffte sie. »Für Staatsbeamte erst recht nicht!«
So hatte sie uns noch nie genannt.
»Noch ein kleines Bier«, sagte Martin.
»Einen Kaffee und ein Wasser«, sagte ich.
»Wer war der Typ?«, fragte Susi in einem Anflug von Nettigkeit.
»Das wissen wir nicht«, sagte Martin.
Susi hielt diese Bemerkung für eine Beleidigung und ließ uns allein. Auf unsere Getränke würden wir vorerst verzichten müssen.
»Was denkst du?«, fragte Martin.
Ich sah zur immer noch offenen Tür, durch die Holzapfel gegangen war.
»Wir hätten ihn zum Arzt bringen sollen.« Andererseits war ich überzeugt, er hätte sich dagegen gewehrt und wäre rechtzeitig abgehauen.
»Glaubst du, er steht unter Schock?«
»Er hat mich verfolgt«, sagte ich, noch immer konsterniert über meine Blindheit. »Hat jemand eine solche Disziplin, der unter Schock steht?«
Martin erwiderte nichts. Ich wusste es auch nicht.
Wir hielten Ausschau nach Susi. Vielleicht brachte ihr der asiatische Koch gerade Konfuzius näher, jedenfalls existierte keine Welt um sie herum.
»Du musst dich ausschlafen!«, sagte ich zu Martin.
»Später«, sagte er.
Draußen schien unverändert die Sonne.
Ich erinnerte mich, dass ich meiner Kollegin Sonja Feyerabend versprochen hatte sie anzurufen. Sie hatte heute frei und mich gestern am Telefon gefragt, ob ich Zeit hätte, mit ihr etwas zu unternehmen. Was?
Ich dachte daran, sie anzurufen und abzusagen.
In diesem Moment stürzten zwei Kollegen der Bahnpolizei aus ihrem Büro, das an das Bistro angrenzte. Sie erkannten uns.
»Schlägerei!«, rief der eine. »Ein Kerl hat eine wildfremde Frau niedergeprügelt!«
Ich sah Martin an und wusste, dass er dasselbe dachte wie ich.
4
D ie Frau saß auf einer Wolldecke, die die Sanitäter mitgebracht hatten, und hielt sich einen Wattebausch vor die Nase. Sie lehnte an der Glasfassade des Zeitungskiosks in der Nähe der Gleise, umringt von Neugierigen. Nach den Aussagen von Zeugen hatte ein Mann der Frau ohne jede Ankündigung ins Gesicht geschlagen, mit der blanken Faust, sagten einige, andere behaupteten, er habe sie geohrfeigt. Während die Frau zu Boden stürzte, sei der Mann davongelaufen, Richtung Südausgang, wo er die Treppe zur U-Bahn nahm.
Seltsamerweise hatte niemand ihn aufgehalten. Auf die Frage, warum er den Täter nicht verfolgt habe, sagte ein Zeuge, das Opfer sei ihm wichtiger gewesen. Ein anderer Mann erklärte, er habe Angst gehabt, der Mann würde eine Waffe ziehen und wild um sich schießen wie dieser Irre neulich in einem Schweizer Parlament.
Zwar gaben die Zeugen unterschiedliche Beschreibungen des Schlägers ab, doch ich hatte keinen Zweifel daran, dass es sich um Jeremias Holzapfel handelte. Also verbrachten wir die nächste Stunde bei unseren Kollegen vom Bahnhof, erzählten ihnen, was wir wussten, und ich gab ihnen die Adresse des Maklers und der Wohnung auf der Theresienhöhe.
Was die verletzte Frau betraf, Esther Kolb, so sagte sie aus, sie habe den Angreifer nie zuvor gesehen, allerdings sei alles so schnell gegangen, dass sie sich kaum an sein Aussehen erinnern könne.
»Sie werden ihn bald erwischen«, sagte Martin, als wir das Büro der Bahnpolizei verließen und endlich ins Sonnenlicht traten. Ich war nahe daran, einen Schrei auszustoßen und im Kreis zu springen aus vollkommenem Übermut.
»Hoffentlich erwischen sie ihn«, sagte ich und beobachtete Martin, der sich den Schweiß von der Stirn wischte und die Arme um den Körper schlang, als würde er frieren. »Er muss ins Krankenhaus, er muss sich untersuchen lassen. Warum haben wir uns nicht darum gekümmert, Martin?«
»Wahrscheinlich spinnt
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