Süden und der Straßenbahntrinker
vor sieben Tagen. Ich schätze, dass ich schon heut Abend was Genaueres sagen kann.«
»Danke«, sagte Stern.
Der Pathologe steckte das kleine Aufnahmegerät, das er in der Hand gehalten hatte, in seine Ledertasche und verließ die Wohnung. Noch während er mit seinen Untersuchungen beschäftigt gewesen war, hatte ich Stern kurz erklärt, warum ich mich in der Wohnung aufhielt. Jetzt sah er mich erwartungsvoll an.
»Vermutlich kenne ich den Mann, der die Leiche gewaschen hat«, sagte ich.
»Wo ist er?«, fragte Stern.
»Unterwegs in der Stadt.«
Ich dachte an Clarissa und ihre Behauptung, sie habe ihren Exmann vor zwei Jahren zum letzten Mal gesehen. Nach dem, was passiert war, musste ich so schnell wie möglich erneut mit ihr sprechen. Allerdings nicht bei ihr zu Hause.
»Wir versiegeln die Wohnung und warten auf die Ergebnisse Ekhorns«, sagte Stern.
»Lasst ihr nach dem Mann fahnden?«, fragte Orth.
»Was meinst du?«, sagte Stern zu mir.
Ich sagte: »Ich kenne ein paar Freundinnen von ihm, ich frag sie, ob er sich heute bei ihnen gemeldet hat. Und er hat einen gelben Anorak an, einen Friesennerz.«
»Woher weißt du das?«, fragte Stern.
»Hat mir eine seiner Bekannten erzählt.«
Er drückte die Zigarette auf einem Unterteller aus. »Hast du hier was laufen, was du uns verschweigst? Sei ehrlich, Südi!«
Ungefähr nach dem dreihundertsten Versuch hatte ich es aufgegeben, ihm zu verbieten, mich Südi zu nennen.
»Ich habe dir erzählt, was mit dem Mann los ist«, sagte ich. »Und deswegen habe ich ein paar Leute besucht.«
»Im Urlaub?«, sagte Nadine.
»Ja«, sagte ich.
Sie trauten mir nicht, alle sechs, die um mich herumstanden.
»Und die Nachbarin?«, fragte Stern.
»Wir verziehen uns dann mal«, sagte Elmar Orth. Für die Todesermittler gab es nichts mehr zu tun. Bisher deutete nichts auf Fremdverschulden hin, alle weiteren Untersuchungen betrafen andere Kommissariate oder die Spurensicherung. Angesichts der etwa zweitausendzweihundert Leichen pro Jahr, zu denen die Hundertzwölfer gerufen wurden, waren sie über jeden Einsatz froh, der rasch zu Ende ging.
»Ich sprech selber mit der Nachbarin«, sagte Stern, als die beiden schwarz gekleideten Männer mit dem Zinksarg kamen. Seine beiden Kollegen sollten die übrigen Hausbewohner befragen.
»Sei so nett und tipp alles auf, was du weißt«, sagte er zu mir.
»Ja«, sagte ich.
»Wird die Bude jetzt frei?«, fragte einer der Schwarzen. Sie hatten den Sarg abgestellt und sahen sich die Wohnung an. Das machten sie immer, wenn keine Angehörigen in der Nähe waren.
»Da zahlst du beim Neueinzug zweihundert mehr«, sagte der andere.
»Ich wollt schon immer mal in Haidhausen wohnen«, sagte sein Kollege.
»Das kannst du dir nicht leisten.«
»Du musst schnell sein! Wem gehört die Wohnung?«, fragte er Stern und mich.
Ich sagte: »Fragen Sie den Hausmeister!«
»Gute Idee, Chef.«
Ich verabschiedete mich, obwohl mir klar war, dass Rolf Stern mir noch Fragen stellen wollte. Von einer Telefonzelle aus rief ich Clarissa an. Ich erreichte sie bei TV9.
»Ich hab grad eine wichtige Sitzung«, sagte sie.
Ich sagte: »Kommen Sie bitte danach sofort ins Dezernat 11 in der Bayerstraße.«
»Das ist unmöglich.«
»Soll ich Sie abholen lassen?«
»Wie reden Sie denn mit mir?«, sagte sie laut.
»In zwei Stunden sind Sie da«, sagte ich. »Wiedersehen.« Sie schaffte es in einer Stunde.
Im dritten Stock des Dezernats gab es einen kleinen Raum mit einem niedrigen Fenster, den wir immer dann benutzten, wenn alle übrigen Zimmer besetzt waren. Und das war fast immer der Fall. Vermutlich hatte unser Dezernat als einziges in Deutschland keinen separaten Vernehmungsraum. Stattdessen wichen wir in unsere Besprechungszimmer aus, und wenn dies nicht möglich war, zum Beispiel bei umfangreichen Fahndungsaktionen, an denen die Kollegen der gesamten Abteilung beteiligt waren, blieb uns nur diese Zelle im dritten Stock, ohne Telefon und Zentralheizung. An manchen Wintertagen mussten wir einen elektrischen Heizstrahler reinstellen, was bedeutete, dass wir noch weniger Platz hatten.
»Danke fürs Kommen«, sagte ich zu Clarissa Holzapfel.
In der Mitte des Raumes stand ein länglicher Tisch mit drei Stühlen. Ich hatte eine Flasche Wasser, Gläser, einen Schreibblock, mehrere Stifte und einen Kassettenrecorder mitgebracht, den ich einschaltete, als sich Clarissa nach mehrmaliger Aufforderung endlich hinsetzte.
»Ich vernehme Sie als Zeugin«, sagte ich.
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