Süden und der Straßenbahntrinker
näher? Den Freund von Frau Hrubesch?«
Als hätte ich sie zu Tode beleidigt, stand sie da, mit einem Gesicht aus Verachtung, auf der Suche nach einer angemessenen Entgegnung.
In diesem Moment klingelte es an der Tür. Nike zuckte zusammen. Was sie noch wütender machte, für mich jedoch ein komischer Anblick war.
»Kommen Sie!«, sagte ich. »Meine Kollegen brauchen Platz.«
Nike rührte sich nicht von der Stelle. Ich nahm eine Hand aus der Tasche und stieß mich vom Türrahmen ab, an dem ich reglos gelehnt hatte. Da rauschte sie an mir vorbei, berührte mich mit der Schulter absichtlich am Arm und riss die Wohnungstür auf. Und knallte in vollem Schwung gegen einen Mann, der ein Lederkäppi aufhatte und einen Parka trug.
Nike gab einen spitzen Schrei von sich.
»Hallo, Rolf!«, sagte ich zu dem Mann.
»Servus, Südi«, sagte Rolf Stern von der Mordkommission und schob Nike zur Seite. »Was geht da ab bei euch?«
»Das ist eine Nachbarin«, sagte ich.
»Und was machst du mit der Nachbarin in der Wohnung einer Toten?« Er grinste und betrat die Wohnung, gefolgt von zwei seiner Kollegen, einer Frau und einem Mann, dem Gerichtsmediziner und den drei Kommissaren vom Hundertzwölfer, den Todesermittlern. Mit ihren Taschen und Mappen zwängten sie sich an mir vorbei.
»Hast du nicht Urlaub?«, fragte Rolf.
»Doch.«
»Und was machst du dann hier?«
»Soll ichs dir erklären?«, sagte ich.
Vom Flur aus sah ich, wie Nike sich weigerte dem Hausmeister zu antworten, der ununterbrochen auf sie einflüsterte.
Eine halbe Stunde später hatten Elmar Orth, der Leiter des Kommissariats 112, und seine beiden Kollegen die Leiche von Inge Hrubesch entkleidet und nach Spuren von Gewalt untersucht. Sie fanden keine Hinweise auf Folterungen oder Schläge. Vorsorglich hatte Orth die Mordkommission informiert gehabt, da meine Mitteilungen am Telefon zu vage waren, um ein Verbrechen von vornherein auszuschließen.
Nachdem der Gerichtsmediziner die Leiche begutachtet, die Körpertemperatur gemessen und die Tote akribisch abgetastet hatte, während Stern und sein Team die Wohnung inspizierten, trafen wir uns zu acht in der Küche.
»Keine Spur von Gift, Rolf«, sagte Nadine Bach, die Hauptkommissarin beim Mord. Sie war die einzige, die ihren Chef Rolf nennen durfte, in Anspielung auf seine Alt-68er-Attitüden. Obwohl er von uns zu seinem fünfzigsten Geburtstag eine edle schwarze Lederjacke geschenkt bekommen hatte, trug er nach wie vor am liebsten seinen Parka und dazu dieses Lederkäppi, das auf seinem fast kahlen Kopf festgewachsen schien, außerdem einen goldenen Knopf im linken Ohr und ausgebleichte Jeans, mit denen er vermutlich schon gegen den Schah von Persien demonstriert hatte. Natürlich drehte er sich seine Zigaretten selber. Wie viele Kollegen, meinen Freund Martin und mich eingeschlossen, war Rolf Stern zur Polizei gegangen, weil er nicht wusste, was er werden sollte, und weil er dann nicht zur Bundeswehr musste. Manchmal arbeiteten wir in einer Sonderkommission zusammen, und ich mochte seine nüchterne Art und seine Langsamkeit bei komplexen Fällen.
Und entgegen den Vorschriften war er der einzige Kommissar, den ich kannte, der an Tatorten rauchte.
»Danke, Nadine«, sagte er, zupfte sich Tabakkrümel von den Lippen, zog an der Zigarette und wartete auf eine Erklärung des Pathologen.
»Wie ihr gesehen habt«, sagt Dr. Silvester Ekhorn, »hat eine leichte Verwesung bereits eingesetzt.«
Ich hatte nichts gesehen. Nicht, dass ich mich beim Anblick von Toten übergeben musste, aber ich konnte keine nackten Toten sehen. Früher, in den vier Jahren beim Mord, war ich mir jedes Mal, wenn wir ein entkleidetes Opfer vor uns liegen hatten, wie ein Eindringling in eine Sphäre vorgekommen, eine Art heiligen Bereich, den ich durch meine plumpe Anwesenheit nicht entweihen durfte. Gedanken, über die unsere Pathologen in Gelächter ausgebrochen wären.
»Keine Gewalteinwirkung von außen«, sagte Dr. Ekhorn.
»Die Leiche ist gewaschen worden, sicher mehrmals, gewaschen und eingecremt und mit Parfüm bestäubt…«
»Wie bestäubt?«, fragte Rolf Stern amüsiert.
»Heißt das nicht so?«, sagte Dr. Ekhorn.
»Eingesprüht«, sagte Nadine.
»Eingesprüht! Ich hab mich versprochen. Also, es hat sich jemand um die Tote gekümmert…« Er machte eine Pause. Das war die berühmte Pause vor der für jeden Kriminalisten bedeutenden Aussage: »Wann die Frau zu Tode gekommen ist… Vor fünf bis sechs Tagen, kann auch sein
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