Süden und der Straßenbahntrinker
»Ihre Aussagen werden Bestandteil einer Akte, die vielleicht später vor Gericht benutzt wird.«
»Was wollen Sie?« Sie gab sich selbstsicher, aber sie war nervös. Sie kratzte mit dem Daumen über die Tischplatte. Ich goss Mineralwasser ein, schob ihr das Glas hin und lehnte mich an die Wand.
»Das macht mich nervös, wenn Sie da stehen«, sagte Clarissa.
»Dienstag, siebter September, vierzehn Uhr fünfunddreißig«, sagte ich. »Frau Clarissa Holzapfel als Zeugin geladen im Fall Inge Hrubesch.«
Diese Aussage erschreckte sie mehr, als ich erwartet hatte.
»Clarissa Holzapfel«, sagte ich, »ist die geschiedene Frau von Jeremias Holzapfel, dem Lebensgefährten von Inge Hrubesch, die heute tot in ihrer Wohnung aufgefunden wurde.«
Mit halb offenem Mund sah Clarissa mich an.
»Wann haben Sie Ihren Exmann zum letzten Mal gesehen, Frau Holzapfel?«
Das sachte Klopfen des Regens ans Fenster war das einzige Geräusch während der folgenden drei Minuten.
10
» E ines verrat ich Ihnen gleich«, sagte Clarissa schließlich, warf mir einen schnellen Blick zu und betrachtete von nun an nur noch ihre Hände. »Wenn ich vor Gericht aussagen muss, dann verweiger ich die Aussage. Ich sag nicht gegen meinen Exmann aus, niemals! Und niemand wird mich dazu zwingen, Sie auch nicht!«
»Vielleicht kommt es zu keiner Verhandlung«, sagte ich. Sie zögerte einen Moment. »Wieso nicht?«
»Wieso?«, sagte ich.
Sie verfiel in trotziges Schweigen.
Seit ich diesen Beruf ausübe, begegne ich Leuten, die sich selber Fallen stellen, die glauben, je mehr sie verheimlichen, desto schwieriger sei es für uns etwas herauszufinden. Leute, die sich mit Dingen herumquälen, die sie ebenso gut von sich weisen könnten, indem sie mit uns reden, indem sie überhaupt den Mund aufmachen und die Situation, die sie als Verhör empfinden, zügig beenden. Sie lügen und blocken ab, sie erfinden Ausreden in dem irren Glauben, die oft simple Wahrheit nehme ihnen niemand ab. Sie verhedderten sich in einem Gestrüpp aus Gespinsten, dass es manchmal beinah peinlich ist, ihnen dabei zuzusehen.
Es gefiel mir, wie Clarissa ihren Exmann verteidigte und ihn schützen wollte, ohne genau zu wissen, wovor. Oder wusste sie es doch?
»Jeremias«, sagte ich. Pause. Sie dachte nicht daran den Kopf zu heben. »Sie haben ihn getroffen, vor kurzem. Sie haben mit ihm gesprochen. Er hat Ihnen etwas erzählt, Sie haben versprochen ihm zu helfen.«
Jetzt nickte sie.
»Sagen Sie bitte Ja oder Nein, wegen dem Protokoll.«
»Ja«, sagte sie.
»Was hat er Ihnen erzählt?« Sie schwieg.
»Wann haben Sie ihn getroffen?« Ich rechnete nach, wann ich ihn getroffen hatte. Am vergangenen Freitag. Und am Mittwoch davor war er im Dezernat aufgetaucht. Einen Versuch war es wert.
»Sie haben ihn am letzten Mittwoch getroffen«, sagte ich. Sie lächelte. Die Falten um ihrem Mund machten ihr Gesicht freundlich.
»Am letzten Mittwoch, den ersten September«, sagte ich. Sie sagte: »Ich hab nicht aufs Datum geschaut.«
»Wo haben Sie sich getroffen? In Ihrer Wohnung?«
Ihr Lächeln endete so abrupt, wie es begonnen hatte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann stockte sie. Sie schaute zum Fenster, das von Schlieren übersät und schmutzig war. Mehrmals tippte sie die Finger aneinander, in Gedanken vertieft. Sie drehte den Kopf in meine Richtung, vermied es aber mich anzusehen.
»Bernhard hat ihn weggejagt. In den Park. Er hätt ihn verprügelt, wenn ich nicht dazwischengegangen wäre.« Sie keuchte, fuhr sich über die Augen. »Es war furchtbar. So furchtbar.«
»Jeremias ist zu Ihnen in die Wohnung gekommen«, sagte ich.
Bevor sie antwortete, setzte ich mich ihr schräg gegenüber. Sie saß an der Schmalseite des Tisches. Jetzt sah sie mir in die Augen. Sie wollte sprechen, fand aber die Worte nicht. Ich streckte den Arm aus und berührte ihre Hand. Sie zog sie nicht weg. Ich umfasste ihre Finger, die kalt waren.
»Er hat geklingelt, Sie haben geöffnet«, sagte ich.
»Er hat geklingelt, ich hab geöffnet«, sagte sie leise. »Ich hörte, wie jemand die Treppe hochkam, schwerfällig wie ein alter Mann, ich ging ins Treppenhaus und sah ihn hochkommen. Er sah mich auch, und in diesem Moment stürzte Bernhard aus der Wohnung. Normalerweise ist er um diese Zeit in seinem Büro oder bei Kunden. Und dann fing die Keilerei an. Dabei hat… Jeremias hat überhaupt nichts gesagt, das ist mir erst hinterher bewusst geworden… Er hat nur zu mir hochgesehen,
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