Süden und der Straßenbahntrinker
ihren Gesichtsausdruck richtig interpretierte, bis in die Haarspitzen nervte.
»In zwei Stunden meldet sich Dr. Ekhorn«, sagte ich.
»Möglicherweise hat die Frau Selbstmord begangen.«
»Und liegt dann eine Woche tot in ihrer Wohnung?«, sagte Thon. Das Zigarillo hüpfte zwischen seinen Lippen.
»Was ist mit dem Mann los?«, fragte Paul Weber.
Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt mit ihm zu sprechen. Warum war er nicht im Krankenhaus bei seiner Frau? Wie war ihr Zustand? Wie hielt er es aus, im Dezernat zu sein und an solchen Besprechungen teilzunehmen?
Wie immer waren seine Ohren unglaublich gerötet.
»Er ist krank«, sagte ich. »Etwas stimmt nicht mit ihm.«
Thon sah mich an. Ich wartete auf die Bemerkung: So wie mit dir.
»Erklär mir, wieso die Frau eine Woche tot in ihrer Wohnung lag?«, sagte er. Dann nahm er das Zigarillo aus dem Mund und legte es auf den Tisch.
»Die Kollegen werden es rausfinden«, sagte ich.
Obwohl wir darüber redeten, ging uns dieser Fall im Grunde nichts an. Nach wie vor war niemand als vermisst gemeldet worden, und auch wenn nach Jeremias Holzapfel noch heute öffentlich gefahndet werden sollte, würde er als Zeuge oder Tatverdächtiger gesucht werden, nicht als Vermisster.
Weil ich plötzlich im Büro aufgetaucht war, um meinen Bericht für Rolf Stern zu schreiben, hatte Thon mich zur Rede gestellt. Natürlich vermutete er sofort, ich würde wieder einmal etwas verschweigen und eigene Spuren verfolgen, ohne die Kollegen zu informieren. Völlig unrecht hatte er damit nicht.
»Wir haben zwei neue abgängige Kinder«, sagte Thon und gab mir meinen Bericht zurück. »Martin und Florian sind unterwegs. Johann ist krank, und du hast Urlaub.
Wir sind unterbesetzt und zusätzlich kümmern wir uns um Dinge, die nicht in unsere Abteilung gehören. Wenn du schon mal da bist, willst du deinen Urlaub nicht abbrechen?«
»Warum?«, fragte ich.
»Du scheinst viel Zeit zu haben. Nutze sie für uns!«
»Ich baue Überstunden ab«, sagte ich.
Gerade als ich mit Weber sprechen wollte, wurde er ans Telefon gerufen. Und ein Blick zu Sonja genügte, und ich begriff, sie legte keinen Wert darauf, dass ich ihre Nähe suchte.
So brachte ich Rolf Stern meine Aufzeichnungen. In seinem Büro herrschte die blanke Hektik. Stimmen am Telefon, Stimmen über die Schreibtische hinweg, ein endloses Klingeln, haufenweise Faxe, Kollegen, die hereinstürmten, Mappen auf den Tisch knallten und sich gegenseitig anrempelten.
Stern dagegen saß ruhig da, die Beine auf dem Tisch, und betrachtete Fotos von einem Tatort samt Leiche.
»Setz dich!«, sagte er.
Das wäre nur möglich gewesen, wenn ich mir einen Stuhl mitgebracht hätte.
»Was Neues?«, fragte ich.
»Zu viel«, sagte er, legte die Fotos weg, schüttelte den Kopf und nahm die Plastikhülle, in die ich meinen Bericht gesteckt hatte. »Die Sache wird sich für uns nicht auswachsen, kann ich mir nicht vorstellen. Was hast du von der Frau für einen Eindruck, Südi?«
»Sie sagt die Wahrheit.«
»Das tut niemand.« Wahrscheinlich hatte er Recht.
»Sie weiß nicht mehr«, sagte ich. »Gebt ihr eine Suche nach dem Mann raus?«
Stern legte den Bericht auf einen Stapel, der bald umkippen würde, und griff nach der Tabakpackung. »Nur wenn Mordverdacht besteht. Wenn nicht, warten wir noch einen Tag, vielleicht meldet er sich freiwillig. Wir brauchen ihn natürlich für den Abschlussbericht. Er ist vermutlich der Einzige, der weiß, was passiert ist. Außerdem hat er vermutlich mehrere Tage neben der toten Frau verbracht. Was ja nicht strafbar ist. Kannst du das begreifen, dass jemand so was macht? Neben einer Toten leben?«
Er zündete sich die Zigarette an.
»Ich würde es nicht ertragen«, sagte ich.
»Ich auch nicht«, sagte Stern. »Es gibt schon Lebende, neben denen ich es kaum aushalte.«
»Wann ruft Ekhorn an?«
Er sah auf die Uhr. »Ich muss nochmal raus, wir haben einen Leichenfund in Trudering, sieht nach einem Streit unter Junkies aus. Wenn Ekhorn sich bis in einer halben Stunde nicht gemeldet hat, ruf ich ihn an.«
»Sagst du mir Bescheid?«
»Wo erreich ich dich?«
»Ich ruf dich in einer halben Stunde aus der Stadt an«, sagte ich. »Habt ihr die Nachbarn und Freunde der Toten befragt?«
»Ja, war wohl eine verschlossene Frau. Sie hat pornografische Filme gedreht, wusstest du das, in ihrem Alter?«
»Ich wusste es nicht«, log ich.
»Sie hat Tabletten geschluckt, auch viel getrunken. Braga und Gerke waren in ein paar
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