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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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ihr mit dem Zeigefinger über die Wange. »Was erschreckt dich so?«
    »Wann hast du erfahren, dass die Frau tot ist?«, fragte sie. Sie nahm meine rechte Hand und drückte sie an ihre Wange, der Zeigefinger war ihr zu wenig. Auch wenn mir ganz andere Dinge im Kopf umgingen, fürchtete ich plötzlich einen Fehler begangen zu haben. Eine blitzartige Furcht, die mich zwang, das Taxi vor mir zu sehen, in das ich am Tiroler Platz eingestiegen war, nachdem es bei Grün bereits losgefahren war und ich dem Fahrer hinterhergewunken hatte. Was erwartete Esther bei unserem zweiten Abschied von mir? Ein Versprechen?
    »Was?«, sagte sie.
    Vielleicht war mein Gesicht ein offenes Buch.
    »Ich musste an was denken«, sagte ich zaghaft.
    »An die tote Frau?«
    »Ja«, sagte ich. »An Inge Hrubesch. Wir haben sie heute gefunden…«
    »Wer hat sie gefunden?«, unterbrach sie mich.
    »Ich.«
    Wieder versuchte sie sich zu konzentrieren, jedes Wort, das ich sagte, in einen Zusammenhang zu bringen mit etwas, das sie zu martern schien.
    Weil ich damit begonnen hatte, fühlte ich mich verpflichtet fortzufahren:
    »Ich war in der Wohnung, ich wollte mit Frau Hrubesch sprechen.« Ich berichtete, was ich gesehen hatte, beantwortete jedoch eine von Esthers Fragen nicht. Unnützes Versteckspiel.
    »Seit wann ist sie tot?«, fragte sie.
    Ich sagte: »Der Pathologe glaubt, seit einer Woche.«
    »Und du?«, sagte sie heftig. »Und du? Was glaubst du?« Ich zog den Arm von ihrer Schulter und griff nach dem Laken auf dem Boden. »Ich bin kein Mediziner. Wenn er sagt, der Todeszeitpunkt war ungefähr vor einer Woche, dann wird es stimmen. Er ist der Experte, nicht ich. Hast du mit Jeremias vor einer Woche gesprochen?«
    Sie hielt die Luft an. »Nein«, sagte sie. Und noch einmal, leiser: »Nein.« Dann sah sie mich an, sah wieder weg und wieder zu mir. »Ich hab nicht mit ihm gesprochen, ich hab mit ihm geschlafen. Wie früher. Es tut mir Leid.« Wahrscheinlich dachte sie, ich sei beleidigt oder gekränkt oder enttäuscht. Doch der Grund, warum ich aufstand, meine Unterhose, die Jeans und mein Hemd anzog, das ich zur Hälfte zuknöpfte, lag darin, dass ich nackt nicht nachdenken konnte. Ich bildete mir ein, nackt ein anderer zu sein, auf jeden Fall kein Polizist, der dienstlich nachdenken musste. Und das musste ich jetzt. Zu viele Frauen, zu viele Türen, die aufgingen, ohne dass ich hätte sagen können, ob ich überhaupt eintreten wollte.
    Esther hatte sich in das Laken gehüllt. Jede meiner Bewegungen verfolgte sie mit Besorgnis und Unsicherheit. An die Wand gelehnt, versuchte ich ihr zu erklären, warum ich mich angezogen hatte. In ihren Augen las ich komplettes Unverständnis.
    »Wann hast du mit ihm geschlafen?«, fragte ich. »Letzten Dienstag? Letzten Montag? Ich bitte dich, es geht nicht um mich, es geht um Jeremias, um Inge, ich frage dich als Polizist. Und wenn ich zu Ende gefragt habe, ziehe ich mich wieder aus und komm zu dir ins Bett.«
    Sie richtete sich auf, drückte das Laken an ihren Körper.
    »Irgendwas stimmt mit dir nicht«, sagte sie.
    »Bitte«, sagte ich. »Wann war er hier? Wann war das, Esther?«
    »Was ist da passiert?«, fragte sie. Gekrümmt saß sie da, mit hängenden Schultern, die nichts von ihrer sonstigen Kraft verrieten. Eine Frau Ende dreißig, schuldbewusst wie ein Schulmädchen, das etwas Fürchterliches angestellt hatte.
    Was Esther Kolb getan hatte, war nicht fürchterlich, war nichts Besonderes, nichts anderes als das, was sie mit mir getan hatte. Vermutlich. Es warf nur mein einigermaßen ordentlich zusammengefügtes Bild des seltsamen Herrn Holzapfel über den Haufen.
    »Wann war er hier?«, fragte ich mit Nachdruck.
    »Sonntag Nacht.« Sie knetete das Laken mit beiden Händen.
    Ich sagte: »Eine Woche, bevor er dich das zweite Mal besucht hat. Nur verändert, völlig verändert.«
    »Ja«, sagte sie hastig. »Ja, völlig verändert, das war er! Er war…«
    »Und den Sonntag davor, wie war er da?«
    Verwirrt ließ sie das Laken los. »Setz dich zu mir! Bitte, Tabor, ich will nicht, dass du da an der Wand stehst so… so förmlich, als würdst du gleich weggehen…«
    Ich konnte mich nicht zu ihr setzen.
    »Später«, sagte ich.
    Lange sah sie mich an, und ich wusste, mein Blick gefiel ihr nicht, er war distanziert, nüchtern, ohne Erinnerung an das, was wir vorhin im Bett erlebt hatten.
    »Er stand auf einmal vor der Tür«, sagte sie. »Er stand da, ich hab ihn gefragt, was er will, er hat gesagt, er hat

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