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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Bars, deren Adressen wir in der Wohnung gefunden haben. Du kennst die Leute, denen ist das egal, ob einer wegstirbt, noch dazu eine Frau, die fast sechzig ist und solche Filme dreht.«
    »Wie alt war sie?«, fragte ich.
    »Achtundfünfzig. Ich hätte sie älter geschätzt.«
    »Ich auch.«
    »Sie hat eine Mutter, die lebt in Burghausen, in Niederbayern.«
    »Burghausen liegt in Oberbayern.«
    »Ehrlich? Ich war mal dort, kam mir vor wie Niederbayern.«
    »Habt ihr mit der Mutter gesprochen?«, fragte ich.
    »Wir haben sie noch nicht erreicht. Moment mal.« Er nahm die Beine vom Tisch, beugte sich vor und sah hinüber ins andere Büro. »Nadine! Nadine!«
    Sie telefonierte. Als sie ihren Namen in all dem Stimmenwirrwarr hörte, hob sie den Kopf.
    »Gleich!«, rief sie.
    »Das wird hart, das seh ich schon voraus«, sagte Stern.
    »Müttern solche Umstände erklären…«
    »Hatten die beiden Frauen Kontakt?«
    »Darüber weiß niemand was, auch die Nachbarn nicht«, sagte er. »Sie kannten die Tote alle, die meisten wussten auch, womit sie gelegentlich ihr Geld verdiente. Aber sonst… Das übliche Desinteresse…«
    Sein Telefon klingelte.
    »Sekunde«, sagte er und nahm den Hörer in die Hand.
    »Stern… Herr Doktor!« Er gab mir ein Zeichen. »Ja… ja…« Er kritzelte Notizen auf einen großen Block. »Hab ich verstanden… ja… Danke für den prompten Service, bis morgen…«
    Er legte auf.
    »Die Frau hat Barbiturate genommen, verschiedene Tabletten in großer Menge«, sagte Stern. »Dazu sehr viel Wodka, eine Flasche möglicherweise. Es sieht alles nach Selbstmord aus. Bleibt die Frage, warum der Mann ihren Tod nicht gemeldet hat. Und Dr. Ekhorn bleibt dabei: Der Tod ist vor etwa einer Woche eingetreten, vermutlich genau heute vor einer Woche.«
    »Am Dienstag«, sagte ich.
    »Am Dienstag«, sagte Stern. Dann lehnte er sich zurück und sah mich aufmerksam an.
    Nadine Bach hatte aufgelegt und stand in der Tür.
    »Ich hatte grad die Mutter dran«, sagte sie. »Sie kommt morgen früh.«
    »Wie hat sie auf den Tod ihrer Tochter reagiert?«, fragte Stern.
    »Kann ich nicht beurteilen«, sagte Nadine. »Geweint hat sie nicht.«
    »Morgen Früh…« Stern berichtete seiner Kollegin, was der Pathologe gesagt hatte.
    »Und der Grund?«, fragte Nadine.
    Stern hob die Schultern. Dann nahm er wieder mich ins Visier.
    »Du«, sagte er. »Hast du nicht Zeit, morgen mit der Mutter zu sprechen? Du bist doch hier der Schicksalsversteher. Wir sind absolut überlastet, wie du siehst.«
    »Ich hab Urlaub«, sagte ich, hob die Faust als Zeichen der Solidarität mit allen Altachtundsechzigern und verließ das Büro.
    Auf dem Flur kam mir Paul Weber entgegen.
    »Gehst du?«, fragte ich ohne jeden Sinn, weil mir nicht schnell genug die richtigen Worte einfielen.
    »Sie haben angerufen«, sagte er. »Es gibt wieder Komplikationen. Ist schwer jetzt.«
    Ich umarmte ihn. Dann drückte er auf den Sicherungsknopf und öffnete die Glastür zum Treppenhaus. Vor dem Aufzug blieb er stehen und wartete. Die Glastür fiel zu. Als er in den Lift stieg, sah er noch einmal zu mir her, ein bulliger Mann mit unglaublich roten Ohren. Vor fast dreißig Jahren, als er noch eine Uniform trug und als Streifenpolizist arbeitete, sprach ihn auf der Straße eine Frau an und fragte ihn nach dem Weg. Und weil diese Stimme ein Zeichen für ihn war, folgte er der Frau und heiratete sie bald darauf. Und weil er nicht wollte, dass sie einen Mann bekam, der lebenslang in einer langweiligen Uniform herumlief, wechselte er in den Innendienst und landete im Dezernat 11.
    Und deshalb war der neunundfünfzigjährige Paul Weber der einzige Kriminalbeamte, der seine Existenz als Hauptkommissar der Stimme der Liebe verdankte.

11
    A lle Versuche, die Nacht allein zu verbringen, scheiterten. Zunächst war ich nach Hause gegangen mit der Absicht, im Zimmer zu bleiben, ein Buch mit Briefen zu lesen, das ich neulich entdeckt hatte, als ich in der Bahnhofsbuchhandlung nach einem Stadtplan von Helsinki fragte. Martin hatte mich darum gebeten. Er verreiste nie, sammelte aber Reiseberichte und verschlang sie wie andere Leute Romane. Manchmal besorgte er sich Landkarten oder Stadtpläne, um die Örtlichkeiten besser einordnen zu können.
    Die Briefe, auf die ich gestoßen war, weil ein Kunde das Buch zufällig neben mir fallen gelassen hatte, stammten von Vincent van Gogh, und obwohl ich gewöhnlich der Meinung bin, dass die Korrespondenz fremder Leute mich nichts angeht, las ich

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