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Süden und der Straßenbahntrinker

Süden und der Straßenbahntrinker

Titel: Süden und der Straßenbahntrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Gesundheit!«, sagte ich. Wir tranken.
    »Meine Tochter«, sagte Frau Hrubesch und strich mit der flachen Hand Brösel von der Tischdecke. »Meine Tochter… Stimmt schon, irgendwie war sie meine Tochter…«
    »Ich hab sie halt großgezogen«, sagte Franziska Hrubesch mit leiser, fester Stimme. »Da hat keiner gefragt. Sie war zwei, als der Krieg aus war, ich hab geholfen, den Schutt wegzuräumen, wie alle Frauen, und da war sie halt immer dabei, die kleine Inge. Ihre Mama war da schon nicht mehr, die hat es nicht mehr in den Bunker geschafft, ich hab ihr gesagt, sie soll das lassen mit dem Brotholen, sie wollte unbedingt beim Erlinger noch ein Brot holen, weil es grad eins gab, so was Dummes. Ich hab gesagt, ich nehm das Ingelein mit, und dann hockten wir da unten, lauter Frauen und eine Handvoll Kinder, und die Paula ist nicht mehr gekommen, die Paula war draußen. Und das Ingelein hat genau gewusst, was da passiert, das hat die gewusst, die Kinder haben es immer als Erste gewusst, denen konnte man nichts vormachen, die haben das gespürt, die haben die Luft zittern sehen…«
    Sie sah mich an. »Nicht?«, sagte sie. »Nicht?« Ich nickte.
    »Hand in Hand sind wir am nächsten Tag raus aus dem Bunker, noch mehr Schutt, noch mehr Feuer, noch mehr Elend, es war halt Krieg. Gehen wir die Mama suchen, hat sie gesagt, gehen wir die Mama suchen! Natürlich. Sind wir die Mama suchen gegangen. Was sonst? Haben sie aber nicht gefunden. Wir haben Leute gefragt. Sogar der Erlinger hat seinen Laden aufgesperrt, so war der. Der hat Nerven gehabt, der hat einfach seinen Laden gleich wieder aufgesperrt.«
    Sie trank. »Nicht? Nicht?«
    Wir tranken beide viel schneller, als wir gegessen hatten.
    »Und so blieb das Ingelein bei mir. Den Rest vom Krieg und die ganze Zeit später. Sie hat gewusst, dass ich nicht ihre Mama war, und ich habs gewusst, aber wir haben es verschwiegen. Was sollen die Leute groß reden? Ich hab gesagt, ich hab die Papiere verloren, da hab ich neue gekriegt. Nagelneue Papiere, und für die Inge gleich welche mit. Jetzt waren wir Mutter und Tochter. Vater gabs keinen. Der ist im Krieg geblieben. Inges Vater war an der Front. Ich weiß nicht, was passiert wär, wenn er zurückgekommen wär. Paula hatte schon ein Jahr lang nichts von ihm gehört gehabt. Er war praktisch verschollen. Er war halt tot, und sie wollten es der jungen Mutter nicht sagen.« Ich winkte der Bedienung und zeigte auf unsere Gläser. Um uns verließen die Gäste das Lokal, einmal kam der Wirt vorbei und fragte, ob es uns geschmeckt habe, und wir sagten beide Ja.
    »Und dann sind Sie aufs Land gezogen«, sagte ich.
    »Nein«, sagte Franziska Hrubesch. »Ich bin erst aufs Land gezogen, als die Inge angefangen hat sich fotografieren zu lassen. Da war sie Anfang zwanzig. Sie hat diese Musik gehört und war dauernd beim Tanzen, und ich bin immer gestorben vor Angst. Das wollt ich nicht länger aushalten müssen. Ich hab sie gebeten anzurufen von unterwegs, wir hatten ja schon Telefon im Haus, aber das hat sie nicht getan. Sie wollte raus, wir hatten da eine kleine Wohnung in der Nähe vom Hirschgarten, Wendl-Diedrich-Straße, sie wollte immer dort weg, dahin, wo was los war, nach Schwabing natürlich, in die Türkenstraße, auf die Leopoldstraße.«
    Sie sah an mir vorbei. »Nicht? Nicht?«
    Dann glitt ein Schatten über ihr Gesicht. »Ich hab mich für sie nicht mehr verantwortlich gefühlt. Klingt das schlecht für mich? Ich hab gedacht, sie ist jetzt erwachsen, ich hab bloß auf sie aufgepasst all die Jahre, ich hab nur geschaut, dass sie wächst und satt wird und zur Schule geht und was lernt, und ich hab als Köchin gearbeitet, ich hab ganz gut verdient. Hier zum Beispiel.«
    »Danke«, sagte ich zur Bedienung, die die Gläser hinstellte.
    »Klingt das negativ, wenn ich sag, ich hab mich nicht mehr verantwortlich gefühlt?«
    Sie sah mich ernst an. »Entschuldigen Sie«, sagte sie.
    »Jetzt weiß ich Ihren Namen nicht mehr.«
    »Süden«, sagte ich. »Das klingt nicht negativ. Nein.«
    »Haben Sie Kinder?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Weiß ich nicht.«
    Sie hob ihr Glas. Wir stießen an, behutsam, als fürchteten wir, die Gläser könnten zerspringen.
    »Ich hatte eine Bekannte«, sagte Frau Hrubesch, »eine Kollegin, die hat in Burghausen gewohnt, die hab ich mal besucht. Mir hats da gefallen, es ist eine große Stadt, die Burg, der Fluss, man ist schnell in Österreich. Ich war genau zweimal drüben, aber ich könnt jederzeit hin,

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