Süden und der Straßenbahntrinker
an mich denken müssen. Wir haben uns mindestens fünf Jahre nicht mehr gesehen, er war noch verheiratet, als er das letzte Mal hier war. Ich kann dir das nicht erklären, du denkst jetzt, ich bin eine…«
»Nein«, sagte ich.
»Du denkst, ich bin eine Frau, die allein ist und froh ist, wenn ein netter Kerl vorbeikommt. Kann schon sein. Ich hab Jerry immer gemocht, sehr gemocht, manchmal haben wir davon gesprochen, dass wir es vielleicht mal zusammen versuchen, als Paar, wenn er geschieden ist. Ich hätt mir das vorstellen können. Er auch, glaub ich. Aber dann hat jeder wieder sein Leben weitergemacht, das Übliche, er mit seiner Frau und seinen anderen Freundinnen und ich allein mit den zwei, drei Männern, die sich angesammelt haben im Lauf der Jahre.«
Sie legte den Kopf schief. Und ich dachte wieder an ein Mädchen.
»Muss ich dich jetzt auch dazurechnen?«, sagte sie, ein kleines Lächeln um den Mund.
»Unbedingt«, sagte ich.
»Ja.« Sie biss sich auf die Lippen. »Er hat gesagt… vorletzten Sonntag…. seine Freundin sei irgendwie eigenartig drauf, sie rede nichts mehr, sitze bloß rum. Und dabei habe sie einen Job gehabt erst kürzlich. Jerry hat nicht genau gesagt, was für einen Job, war anscheinend ziemlich anstrengend. Weißt du, was sie getan hat? Beruflich?«
»Sie war freiberuflich«, sagte ich. »Sie arbeitete für Fotoagenturen.«
»Was für Fotoagenturen?«
»Verschiedene«, sagte ich. »Auftragsarbeiten, sie hatte viel Erfahrung, die Leute fragten sie nach ihrer Meinung, sie war als Beraterin tätig.«
»Ach so.« Esther streckte die Beine aus, hielt für einige Sekunden die Luft an und blickte zu dem Stuhl, an dem Holzapfels Blouson und Hemd hingen. »Sie haben sich gestritten, glaub ich, er war betrunken, als er kam. Natürlich. Er war ja immer betrunken früher, nicht immer gleich stark.«
»Warum hast du mir verschwiegen, dass er am vorletzten Sonntag hier war?«
Und wie selbstverständlich sagte sie: »Er hat mich gebeten, niemandem etwas zu verraten.«
Ich sagte: »Wem hättest du es denn verraten können?« Sie schüttelte den Kopf.
»Hattest du den Eindruck, seine Freundin war da noch am Leben?«
»Natürlich«, sagte sie bestimmt. »Ganz sicher. Er war wütend auf sie, er sagte, er wisse gar nicht, wieso er überhaupt noch mit ihr zusammenlebt. Er hat schlecht von ihr gesprochen, sehr schlecht.«
»Hat er seine Exfrau erwähnt? Clarissa?«
»Nein«, sagte Esther. »Die hat er nie erwähnt.«
»Er hat sie ebenfalls getroffen«, sagte ich.
»Im Ernst? Auch am Sonntag?«
»Nein«, sagte ich. »Einige Tage später. Möglicherweise nach dem Tod seiner Freundin.«
»Der arme Kerl.« Esther legte sich hin, drehte sich zur Seite, mit dem Rücken zu mir, und streckte die Hand aus.
»Komm jetzt! Mehr hab ich nicht zu erzählen. Das ist die Wahrheit. Komm!«
Was bedeutete Esthers Aussage für die Fahndung nach Holzapfel? Suchten meine Kollegen also doch einen Tatverdächtigen? Einen Mann, der seine langjährige Geliebte aus Hass und Überdruss vergiftet hatte? Und dann tagelang neben ihr lebte? Dazwischen seine Exfrau traf? Und freiwillig zur Polizei ging, um eine unsinnige Erklärung abzugeben?
Wer war Jeremias Holzapfel? Was war mit ihm in den vergangenen vier Jahren geschehen? Und auf welcher Bühne irrte der gescheiterte Schauspieler in diesen Stunden umher?
Ich zog mich aus und legte mich zu Esther ins Bett.
Sie drückte meinen Kopf an ihre Brust. »Glaubst du, Jerry hat sie umgebracht?«
Ich antwortete nicht.
Nach kurzer Zeit schlief ich ein und träumte von Martin und mir, wie wir auf einer Giraffe durch den Zoo reiten und dabei mit einem langen Stock einen Ball schlagen wie Polospieler.
Am nächsten Morgen fuhr ich ins Dezernat, um einen Bericht über Esthers Aussage zu schreiben.
»Die Mutter ist auf dem Weg in die Gerichtsmedizin«, sagte Rolf Stern. »Steht dein Angebot noch?«
»Welches Angebot?«, fragte ich.
»Hast du Zeit mit ihr zu sprechen? Wir rotieren hier, ich hab niemanden frei. Ich revanchier mich, Südi, ich versprechs dir.«
»Wann geht die Fahndung nach Holzapfel raus?«, fragte ich.
»Heute noch«, sagte er. »Ich warte auf deinen Bericht von der Mutter. Die Verkehrsbetriebe, die Taxizentralen und die Krankenhäuser sind schon informiert. Danke für deinen Einsatz.«
Aus seiner Nase quoll der Rauch von Schwarzem Krauser.
Natürlich wusste mein Vorgesetzter zehn Minuten später Bescheid.
»Bist du scharf auf eine Versetzung?«, sagte
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