Süden und der Straßenbahntrinker
hatte er offenbar keine Zeit sich zu melden. Wie ich. Einen kurzen Moment dachte ich an Esther, doch Funkel und Sonja kamen ins Zimmer, und ich trat einen Schritt zur Seite.
Schließlich saßen wir um den niedrigen Couchtisch. Und boten wahrscheinlich einen kuriosen Anblick. Als Einziger saß Weber auf dem Sofa, von uns anderen hatte jeder auf einem Stuhl Platz genommen. Im Halbkreis vor Paul hoben wir die Gläser.
»Herzliches Beileid«, sagte Sonja.
Jeder sagte dasselbe, und Paul sagte jedes Mal Danke.
Während wir die Teller auf unseren Knien balancierten, weil es zu umständlich war, sich dauernd zum Tisch hinunterzubeugen, trank Weber sein Bier aus der Flasche und rührte das Salamibrot, das er sich auf den Teller gelegt hatte, nicht an.
Keiner von uns aß mehr als eine Scheibe, dafür tranken wir in Windeseile zwei Flaschen Wein leer. Zwischendurch holte ich Weber eine neue Flasche Bier.
»Wollt ihr Schnaps?«, fragte er.
»Nein«, sagte Funkel.
»Du kannst rauchen«, sagte Weber zu ihm.
»Jetzt nicht«, sagte er.
»Du auch«, sagte Weber zu Thon, der den Kopf schüttelte.
»Hier ist kein Rauchverbot«, sagte Weber.
Dann schwieg er. Seine Frau hatte er noch mit keinem Wort erwähnt. Wozu auch? Sie war ja da. Neben ihm. Deshalb saß er allein auf der Couch. Damit Raum war für die Tote. Ich brauchte nur hinzusehen.
Ich hatte Elfriede kaum gekannt. Wenn sie ins Büro kam, ließen wir die beiden meist allein. Auf den Weihnachtsfeiern tanzte sie. Manchmal war ich am Telefon, wenn sie anrief und ihren Mann sprechen wollte. Dann fragte sie mich, wie es mir gehe, und ich hatte immer den Eindruck, die Antwort interessiere sie wirklich. Ich versuchte dann ehrlich zu sein.
Alles, was ich von ihr wusste, wusste ich von Paul. Oft, wenn er sich am Abend verabschiedete, stellte ich mir vor, wie es sein musste, wenn man jeden Tag zu einer Frau nach Hause kam, die man seit fast dreißig Jahren kannte. Und oft dachte ich dann, dass es wahrscheinlich ein Glück war. Egal, was andere Ehepaare dazu sagen mochten, Paare, die vergessen hatten, weshalb sie zusammen waren oder sich verloren hatten.
Manchmal, wenn ich zur gleichen Zeit wie er Dienstschluss gehabt hatte, begleitete ich ihn absichtlich nicht auf die Straße. Weil ich ihn auf seinem besonderen Heimweg nicht stören wollte. Ich stellte mir vor, wie er, kaum dass er das Dienstgebäude verlassen hatte, anfing sich zu freuen. Wie er Schritt für Schritt beschwingter wurde, ganz gleich, ob er wieder zugenommen hatte. Und wie er aus der U-Bahn stieg, mit der Rolltreppe nach oben fuhr, bekannte Gesichter sah, an den immer gleichen Häusern vorbeiging, bis er die Drachenseestraße erreichte und vor dem schlichten Mehrfamilienhaus stehen blieb, in dem er wohnte, seit er mit Elfriede verheiratet war. Und wie er kurz zögerte, bevor er auf die Klingel drückte oder den Schlüssel aus der Tasche zog. Wie dann an der Tür im zweiten Stock, die genau in dem Moment geöffnet wurde, in dem er um die Flurecke bog, nichts weiter zu sehen war als die Berührung zweier Wangen, das Streichen von Elfriedes Hand über Pauls Arm und eine ungelenkte Drehung des bulligen Polizisten, der im engen Flur seinen Lodenmantel auszog.
Und ich sah mich vor der wieder geschlossenen Tür stehen, an der ein Metallschild mit dem Namen Weber angebracht war und hinter der gedämpfte Stimmen zu hören waren. Bis vor kurzer Zeit und nun nicht mehr.
»Früher«, sagte Weber, »früher hab ich mich oft geschämt, wenn ich allein war. Ich war ja viel allein. Hab mich geschämt. Hab gedacht, ich bin krank. Wenn du in so einem Dorf viel allein bist, fällst du auf, auch als Kind. Du weißt, was ich meine.«
Er sah mich an.
»Ja«, sagte ich.
»Bis ich begriff«, sagte er, »dass jeder eine eigene Einsamkeit hat – wie eine Stimme.«
Er trank, stellte die Flasche auf den Tisch, nahm sie wieder in die Hand.
»Wenn ich so was zu meiner Mutter gesagt hätt, die hätt mich davongejagt. Einsamkeit! So ein Wort gabs bei uns nicht. Wir hatten Arbeit, wir hatten keine Zeit für so Gefühlszeug, mein Vater war beim Straßenbauamt, wenn der abends heimkam, dann wurde gegessen, und fertig. Er stand morgens um halb sechs auf, im Winter noch früher, Schnee schaufeln, streuen, im Sommer Reparaturarbeiten, neue Beläge. Der hätte mir was gepfiffen, wenn ich gesagt hätt: ›Papa, ich bin einsam.‹ Der hätt mir erst eine Ohrfeige gegeben und dann hätt er mich gezwungen, den Garten aufzuräumen, jedes
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