Süden und der Straßenbahntrinker
einen grauen Hut. Sie hatte eine dunkle Handtasche bei sich, die sie mehrmals von einer Hand in die andere nahm. Offenbar benutzte sie sie nicht oft.
»Ich möchte mich gern mit Ihnen unterhalten«, sagte ich.
»Gut«, sagte sie.
Unschlüssig hielt ich nach einem Lokal Ausschau.
»Haben Sie Hunger, Frau Hrubesch?«
Erst reagierte sie nicht, dann trat sie einen halben Schritt näher.
»Glauben Sie, ich kann einen Wunsch äußern?«, sagte sie ein wenig gestelzt. Normalerweise, das war nicht zu überhören, sprach sie Dialekt. In meiner Gegenwart aber bemühte sie sich ihn zu unterdrücken.
»Natürlich«, sagte ich. »Wünschen Sie!«
»Ich… tät gern ins ›Weiße Bräuhaus‹ gehen, kennen Sie das?« Sie hatte tatsächlich die Stimme gesenkt.
»Ich kenne es«, sagte ich.
Kein einziges Taxi fuhr vorüber. Wir würden bis zur nächsten großen Kreuzung gehen müssen.
»Sie fragen mich gar nicht, warum ich da hinwill«, sagte Franziska Hrubesch, während wir uns auf den Weg machten. Sie hatte einen zügigen Schritt.
»Ich frage Sie, wenn wir dort sind.«
»Sie reden nicht gern, gell?«
»Nein«, sagte ich.
»Das ist ein Segen«, sagte sie.
In der Gaststätte nahe dem Marienplatz waren alle Tische besetzt, zumindest im vorderen Teil. Durch die unendliche Güte einer Bedienung, die uns zunächst in den ersten Stock schicken wollte, was Frau Hrubesch mit einem ebenso energischen wie kuriosen »Überhaupt nicht!« ablehnte, bekamen wir zwei Plätze im hinteren Raum, in dem die Tische gedeckt waren.
Frau Hrubesch bestellte ein kleines Bier, ich ein großes Wasser.
Obwohl auf der Speisenkarte ungefähr hundert Gerichte aufgeführt waren und die alte Frau auch einen Blick hineinwarf, zögerte sie keinen Moment, als die Bedienung die Bestellung aufnahm.
»Einen Schweinsbraten und eine Portion Blaukraut extra«, sagte sie.
»Da ist Speckkrautsalat dabei«, sagte die Bedienung.
»Das weiß ich«, sagte Frau Hrubesch. »Und eine Portion Blaukraut extra.«
»Für mich auch einen Schweinsbraten«, sagte ich. »Und einen gemischten Salat extra.«
»Ist recht.«
Nachdem die Bedienung gegangen war, sah Frau Hrubesch sich um.
»Sieht schön aus. Seit dem Umbau war ich nicht mehr hier. Davor auch lang nicht, ganz lang.«
Sie verstummte, schob ihr Besteck, um das eine Papierserviette gewickelt war, hin und her, legte die Hände übereinander, sah mich an. Sie trug eine graue Bluse und einen dunkelgrauen Rock. Das schöne Blau ihrer Augen war die einzige Farbe an ihr.
Sie senkte den Kopf, wenn sie trank, und noch bevor das Essen kam, war ihr kleines Bierglas leer.
»Woher kennen Sie das Lokal?«, fragte ich. Meinen karierten Block hatte ich in der Tasche gelassen, ich hoffte, sie würde sich einfach mit mir unterhalten und vergessen, dass ich Polizist war.
»Nach dem Krieg hab ich hier gearbeitet«, sagte sie. »Ich hab zwei Menschen ernähren müssen.«
Sie schwieg.
Wir saßen uns gegenüber. Manchmal glaubte ich ein graues Lächeln um ihren Mund zu erkennen. Dann nickte ich ihr freundlich zu.
Die Bedienung brachte den Braten und den Salat.
»Guten Appetit«, sagte ich.
»Ihnen auch«, sagte Frau Hrubesch.
Sie aß langsam und genussvoll und sprach kein Wort. Ich war mir nicht sicher, ob es klüger wäre etwas zu sagen. Aber dann schwieg ich wie sie, kaute die Kruste, salzte und pfefferte meinen Salat, und je länger wir aßen, desto einfacher schien es, dazusitzen unter Leuten, in einem Gasthaus mitten am Tag, in Gedanken an einen Menschen, der tot war und der, so dachte ich auf einmal, der alten Frau nicht weniger fern stand als mir.
Ab und zu warf sie mir einen Blick zu, über ihre Hände hinweg, und dann vertiefte sie sich wieder in ihre Mahlzeit und hörte nicht eher auf zu essen, bis außer einem Streifen Fett nichts mehr auf ihrem Teller lag. Zum Schluss aß sie den Rest Blaukraut, wischte sich mit der Papierserviette den Mund ab, atmete tief, legte die Hände neben den großen Teller und sah mir ins Gesicht.
Auch ich hatte alles aufgegessen.
In den vergangenen fünfzehn Minuten hatten wir kein Wort gewechselt.
»Hats geschmeckt?«, fragte die Bedienung.
»Ja«, sagte ich. »Noch ein kleines und ein großes Bier bitte.«
Frau Hrubesch schaute mir noch immer ins Gesicht.
»Ihre Tochter«, sagte ich, denn jetzt war die Zeit zu sprechen. »Was war sie für ein Mensch?«
Es schien mir, als warte sie, bis die Bedienung das Bier brachte.
»Zum Wohl!«, sagte Frau Hrubesch.
»Auf Ihre
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