Süden und der Straßenbahntrinker
wenn ich will. Ist schon in Ordnung dort.«
»Inge wollte nicht mitkommen«, sagte ich.
»Um Gottes willen! Sie war froh, als ich weg war. Nein.
Ich weiß nicht. Vielleicht… vielleicht… Ich glaub, sie hat sich auch nicht mehr verantwortlich für mich gefühlt, sie hat ihr eigenes Leben gehabt, und ich war eine fremde Frau für sie ein Leben lang. Wir haben uns… wir haben zusammen gewohnt, ich hab gesorgt für sie, und sie hat im Haushalt mitgeholfen, das hat sie getan. Da kann ich nichts sagen, am Wochenende, wenn keine Schule war, hat sie geputzt und sogar versucht zu kochen, auch wenn das nicht grad ihre Stärke war. Sie gehörte eher zu den Leuten, die sogar heißes Wasser anbrennen lassen, das macht aber nichts.«
Sie schwieg eine Weile.
»Nein«, sagte ich dann. »Das macht nichts.«
»In den letzten Jahren haben wir keinen Kontakt mehr gehabt, ich hab ihr zum Geburtstag geschrieben, und sie hat sich manchmal am Telefon dafür bedankt. Geschrieben hat sie mir nicht mehr, auch nicht zum Geburtstag, sie hat ihn wahrscheinlich vergessen gehabt. Und in meinem Alter. Es gibt immer noch genug Leute, die einen daran erinnern, wie alt man ist. Ich bin zweiundachtzig, nächsten Monat werd ich dreiundachtzig.«
Wir tranken.
Außer uns waren nur noch zwei junge Asiaten im Raum, die sich unbändig über ihre Schweinshaxe zu freuen schienen.
»Wussten Sie, dass Ihre Tochter Tabletten genommen hat?«, fragte ich.
»Nein«, sagte sie. »Aber sie hat schon früher Pillen geschluckt, ich hab sie auch gefragt, aber sie hat mir keine Antwort gegeben. Wahrscheinlich Drogen, ihre Freunde haben alle Drogen genommen, über die stand manchmal was in der Zeitung, einmal war auch das Ingelein abgebildet, da bin ich erschrocken. Ich hab sie zur Rede gestellt, sie hat gesagt, sie ist da nur aus Versehen drauf, sie kennt die Leute gar nicht. Im Schwindeln war sie nie besonders gut. Ich weiß gar nichts über sie. Ich hab sie da liegen sehen, unter dem Tuch, ich hab sie angeschaut und angeschaut und gedacht, ich muss doch jetzt was fühlen, das ist doch praktisch meine Tochter, die da tot liegt. Aber ich hab gar nichts gespürt in meinem Herz, es hat geschlagen wie immer, ich bin dagesessen auf dem Stuhl und hab das Ingelein daliegen sehen. Und die Zeit ist vergangen.«
Sie schwieg wieder. Im Hintergrund kicherten die beiden Asiaten.
»Hat sie sich umgebracht?«, fragte Franziska Hrubesch. Und ihre Stimme war so klar wie ihr Blick.
»Das wissen wir noch nicht«, sagte ich. »Ihr Freund ist verschwunden.«
»Wenigstens hatte sie einen Freund«, sagte die alte Frau.
Ich überlegte einen Moment. »Sie haben nicht geheiratet?«, fragte ich.
»Nein«, sagte sie. »Ich hab nicht geheiratet.«
»Aber doch nicht wegen Inge«, sagte ich.
»Nein«, sagte sie. »Mir hat keiner gepasst.«
Als wäre damit alles gesagt, verschränkte sie die Arme und schloss für einen Moment die Augen.
»Darf ich schnell telefonieren gehen?«, fragte ich.
Sie öffnete die Augen. »Haben Sie kein Handy?«
»Nein.«
Auf dem breiten Bürgersteig vor dem Gasthaus standen mehrere Telefonzellen. Ich rief Rolf Stern an, um ihm kurz von Franziska Hrubesch zu berichten und zu fragen, ob Holzapfel aufgetaucht sei.
Als ich zum Tisch zurückkam, begriff ich sofort, dass ich der alten Frau nichts vormachen konnte. Dass es sogar lächerlich war zu denken, ich müsste ihr etwas vormachen.
»Was ist passiert?«, sagte sie und sah mir wieder mit ihren blauen Augen ins Gesicht. Vielleicht kamen sie mir auch nur so blau vor, weil sie so leuchteten.
Das war ein irrer Moment. Die ganze Zeit, mehr als zwei Stunden lang, hatte ich dieser Frau zugehört, wie sie ihre Geschichte vor mir ausbreitete, ruhig und gefasst und voller Anmut in all dem Schmerz. Ich, ein Fremder, war ihr Zuhörer, und sie erlaubte es sich nicht überschwängliche Gefühle preiszugeben. Und nun, kaum dass ich mich wieder hingesetzt und das erste Wort gesprochen hatte, bekam ich keine Luft mehr. Und ich öffnete den Mund, als wollte ich schreien. Ich schaffte es nicht, der alten Frau diesen Anblick zu ersparen. Ich schaffte es nicht. Schaffte es nicht, nicht mit größter Anstrengung. Ich brachte meinen Mund nicht mehr zu.
Warum hatte ich mir keine Zeit gelassen? Warum war ich wie hypnotisiert ins Restaurant zurückgelaufen, als fände ich dort Erleichterung? Warum tat ich dieser alten Frau das an, die sich heute für immer von dem Menschen verabschiedet hatte, der ihr, aller inneren und
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