Süden und die Frau mit dem harten Kleid
Hosenbeine vollkommen schmutzig. Aber ich blieb nicht stehen. Wie von einem Ruf gelockt, folgte ich dem Weg am Kleinhesseloher See entlang, wandte mich nach links und erreichte nach ungefähr einer Viertelstunde den Biergarten am »Seehaus«, dessen Bänke und Tische leer und verlassen im Halbdunkel standen. Hinter den Fenstern im Restaurant brannten Lichter. Spaziergänger kamen an mir vorbei, ein Gast trat aus dem Lokal auf die Terrasse und steckte sich eine Zigarette an, er trug einen Anzug und eine Fliege, und nun hörte ich die Musik, eine Band spielte Tanzlieder, und ich sah die Schemen von Leuten, die sich bewegten, im Kreis drehten, umherliefen .
Mit dem Ärmel meiner Lederjacke wischte ich über eine der Holzbänke und setzte mich, den Blick auf den schwarzen See gerichtet, über den lautlos die Schwäne glitten.
Und ich hörte die Frage des Arztes wieder: Was werden Sie jetzt tun? Was werden Sie jetzt tun?
Heute weiß ich, wer wirklich etwas für ihn hätte tun können, in jenem Moment dachte ich nicht an eine konkrete Person, sondern an ein sphärisches Wesen, wie es jedem von uns an die Seite gestellt ist, ähnlich einer Elfe, die eine Pflanze beschützt. Anders als wir Menschen wissen Pflanzen den Wert der ihnen zugeteilten Elfe zu schätzen, sie haben ein kosmisches Vertrauen zu ihr. Wenn eine Pflanze stirbt, überwintert die Elfe in der Erde und sorgt sich im Frühjahr um eine neue Pflanze. Es heißt, Elfen tun fünf Jahre Dienst auf Erden, bevor sie in ihre sphärische Welt zurückkehren, wo sie allerdings nicht für immer ausharren müssen, wenn sie nicht wollen. Sie dürfen dann auf die Erde zurückkehren. Falls sie bleiben möchten, können sie sich im Lauf von tausend Jahren zu Feen entwickeln.
Wir Menschen dagegen sprechen oft von Schutzengeln, aber wir glauben nicht an sie, wir glauben an Airbags, Sicherheitsgurte, raffinierte Bremssysteme, Hightechtriebwerke, an die Geistesgegenwart von Bodyguards und Polizisten. So haben wir den Anschluss an das Andere verloren, an das Wesen, das uns begleitet und keinen Schatten wirft, aber nicht minder real ist .
Auf der Bank am Ufer hörte ich das leise Plätschern des Wassers und die Stimmen der Tänzer im »Seehaus«, die mit der Band mitsangen. Ich stellte mir den Tröster Raphael vor, wie er auf der Suche nach deinem Vater umherirrte, in einem undurchdringlichen Nebel. Ich wünschte, Raphael möge sich um deinen Vater kümmern, denn Raphael lindert die Ängste der Menschen und hilft ihnen, ihre innere Zerrissenheit zu überwinden .
Eine Krähe schrie, eine zweite antwortete, und dann durchdrang ein schwarzes Flattern die Luft, die kalt und feucht und schwer war. Ich fror. Ich war allein. Ich war erschöpft. Ich lehnte mich zurück und stieß mit dem Rücken gegen den Holztisch. Ich schloss die Augen .
Was werden Sie jetzt tun?
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte ich .
»Das glaube ich nicht«, sagte jemand. Ich drehte mich um. Ein Mann kam auf mich zu, er trug einen Mantel, der über die Erde schleifte, und hatte einen Holzstab in der Hand, mit dem er kräftig auf den Boden stieß, als prüfe er bei jedem Schritt dessen Konsistenz.
»Grüß Gott«, sagte ich.
»Glaubst du an Gott?«, fragte der Mann. Etwas an ihm war ungewöhnlich, aber ich kam nicht darauf, was es war .
»Ich zahle sogar Kirchensteuer«, sagte ich.
»Dann bist du bestimmt Beamter«, sagte er und setzte sich neben mich. Sein Mantel verströmte den Geruch nach nassem Laub und Erde. Er klopfte mit dem Stock, der ihn fast überragte, auf den Kies. »Du weißt, was du tun musst«, sagte er. »Du weißt es genau.«
»Ich kenne dich«, sagte ich. »Ich hab dich schon einmal gesehen, wie heißt du?«
»Raphael«, sagte er.
Ich erschrak. Noch jetzt, viel später, erinnere ich mich an den Schrecken, der mich durchfuhr .
»Raphael«, wiederholte ich mit leiser Stimme. Und traute mich nicht, ihn näher anzusehen, vielmehr wandte ich den Kopf ab und starrte zum anderen Ufer des Sees, hinter dem eine weite dunkle Ebene begann .
»Ich bin zu der Geburtstagsfeier eingeladen«, sagte er . »Ich hab keine Lust. Ich glaub, ich kehr wieder um.«
Ich wollte ihm sagen, dass er sich unbedingt um Johann Farak kümmern müsse, sofort, dass dein Vater ihn brauche, dass es um Leben und Tod gehe, dass er der Einzige sei, der deinen Vater retten könne .
Mit allem Mut, zu dem ich fähig war, drehte ich den Kopf.
Er war verschwunden.
Zuerst dachte ich, ich würde noch seinen
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