Süden und die Frau mit dem harten Kleid
sah gepflegt aus, man hätte meinen können, die Hinterbliebenen konkurrierten miteinander um einen Schönheitspreis, den ihnen der Pfarrer an Allerheiligen persönlich überreichte, vielleicht in Form eines versilberten Latschenzweiges oder einer geweihten Schaufel.
Auch in Taging, wo ich geboren wurde und das Grab meiner Mutter ist, bietet der katholische Friedhof den Anblick einer gartenähnlichen Anlage, in der Unkraut verboten oder gar eine Sünde ist. Um das Grab meiner Mutter kümmert sich eine örtliche Gärtnerei, ich bezahle regelmäßig meinen Beitrag, und sie pflanzen Veilchen und Schlüsselblumen, bringen jedes Jahr den Rosenstrauch zum Erblühen und sorgen für frische Erde und eine gelegentliche Waschaktion am Stein. Obwohl ich katholisch bin und die Kirchensteuer von meinem Gehalt abgezogen wird, bete ich nie, zumindest nicht zu einer Erscheinung namens Gott. Ich glaube, dass unser Leben einen Sinn hat und damit der Tod, doch ich weiß nicht, welchen, und wenn ich ein Gedicht von Hölderlin lese oder ein Bild von Vincent van Gogh betrachte, begreife ich, dass es Menschen gibt, die dem Geheimnis der Schöpfung näher sind als alle anderen, und dieser Gedanke tröstet mich. Solche Verse und Kunstwerke sind wie Zufluchtsorte in meiner Einsamkeit, die mich nie abweisen, in welch elender Stimmung ich mich auch befinden mag. Das ist meine Art von Religion, und sie genügt mir.
Wahrscheinlich lachst du jetzt, weil du denkst, was erzählt mir dieser Mann, der bloß ein Polizist ist, ein Beamter, dessen Existenz aus Dienstvorschriften und Bürokratie besteht, ein Ordnungshüter, der brav den Gesetzen zu folgen und den Boden der Tatsachen gefälligst nicht zu verlassen hat.
Im Grund hast du mit dieser Einschätzung Recht. Doch auch wenn ich Polizist und Beamter bin, und das seit einem Vierteljahrhundert, und eine Art personifiziertes Regelwerk darstelle, ist mir in manchen Momenten dieser Beruf bis heute so fremd wie mein gesamtes Leben. Ich begreife dann nicht, welchen Zweck ich erfüllen soll und wozu ich jeden Morgen aufstehe, um meiner Arbeit nachzugehen. Was würde passieren, wenn ich einfach liegen bliebe, den ganzen Tag oder wenigstens bis Mittag? Nichts würde passieren. Nach einer bestimmten Zeit würde mir gekündigt werden. Und dann? Zwei, drei Menschen würden sich wundern und versuchen, mich zur Besinnung zu bringen, mich zurückzuführen in die Gemeinschaft der Normalen. Und dann, wenn ich mich weiter weigerte? Nichts. Und dieses Nichts wäre genauso sinnvoll wie meine tägliche Anwesenheit in meinem Büro im Dezernat 11. Kannst du mir das Gegenteil beweisen?
Trotz meines Berufs bedeutet mir das Alleinsein mehr als alles andere, ich sitze in meinem Zimmer und starre die gelben Wände an (das eine meiner beiden Zimmer habe ich komplett gelb gestrichen, warum, erzähle ich dir vielleicht ein andermal), Stunde um Stunde, manchmal rauche ich eine Pfeife dazu, manchmal betrinke ich mich, manchmal schlage ich die Trommel oder tanze. Und manchmal bin ich dabei nackt.
Du hast Recht: Wenn mein Vorgesetzter mich in diesem Zustand sehen würde, wäre ich nächsten Monat arbeitslos. Und vorher hätte ich noch einen Zwangstermin beim Polizeipsychologen.
Es gibt Nächte, da wünsche ich, ich hätte weniger Dunkelheit in mir. Es gibt Nächte, da wünsche ich, meine Mutter würde noch leben und ich könnte sie fragen, wie es war, als ich geboren wurde, in der ersten Stunde, als sie mich zum ersten Mal in den Armen hielt und mich anblickte. Wen sah sie in dieser Sekunde? Und wie war meine Reaktion auf ihren Blick? Es gibt Nächte, da entzieht sich mir mein Wissen, da ist es in meinem Kopf so still wie auf der Erde, bevor es Lebewesen gab. In solchen Nächten ist mein Zimmer ein Grab und die Wände kommen näher, und ich stemme mich mit beiden Händen dagegen und höre Stimmen, ein Murmeln aus dem Inneren der Steine.
Ich schwöre dir, in diesen Nächten ist mein Verlangen nach dem Leben maßlos, doch ich bin nicht fähig, mein Zimmer zu verlassen, ich muss bleiben, bis wieder der gewöhnliche Tag anbricht und mein Gesicht dasselbe ist wie immer. Vermutlich würde ich, wenn ich Dichter oder Maler wäre, in diesen Nächten etwas schaffen, das ich selbst nicht begreife und das mich gleichzeitig versöhnt mit dem Schmerz, aus dem heraus es entstand .
Bedrückt von solchen Gedanken kehrte ich zum Grab von Ludwig Ross zurück. Da stutzte ich. Den Namen, den ich auf einem Grabstein vor mir las, kannte ich: Berkel
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