Süden und die Schlüsselkinder
Jungen zusammen, sondern mit der Nachricht selbst. Was meinte Adrian mit der Botschaft? Kündigte er bloß die Tatsache an, er würde im nächsten Moment etwas essen? Warum aß er nicht einfach? Gab es eine Botschaft hinter der Botschaft, die nur für Fanny bestimmt war und die nur sie verstand? Oder ging der Junge davon aus, er, Süden, würde den Satz lesen und sollte dadurch, aus welchem Grund auch immer, irritiert oder erschreckt werden?
Während er noch nachdachte, schrieb Süden:
Bin bei Deinem Vater, gegenüber Eurer Wohnung, komm doch bitte auch. Süden.
Obwohl er mit keiner positiven Reaktion und, wenn er ehrlich war, mit überhaupt keiner Antwort rechnete, hoffte er doch, seine Nachricht würde den Jungen zu einer Handlung bewegen, zu einem Schritt, den er nicht geplant hatte.
Stattdessen erhielt Süden eine simple Frage.
Ist mama auch da?
Nein,
schrieb er sofort zurück
, Deine Mama ist im Hotel Daheim beim Bahnhof, ich kann Dich hinbringen.
Adrians Vater warf ihm einen verächtlichen Blick zu, glitt vom Barhocker, setzte die Fellmütze auf, holte eine Schachtel Marlboro aus der Manteltasche, ging zur Tür.
Süden hob den Kopf. »Ich warte auf Ihre Antworten.«
»Entspannt weiterwarten.« Richter zog die Tür auf und verschwand nach draußen.
Die Bedienung ging zu dem reglos dasitzenden dünnen Mann mit der Nikolausmütze und stupste ihn an der Schulter. »Zum Schlafen gehst aber heim. Hallo.«
Der Mann hob den Kopf und lächelte. »Hallo, Natascha. Frohe Weihnachten.«
»Passt schon«, sagte Natascha.
Als sie sich umdrehte, erhob sich der Mann flugs, streckte den Arm aus und griff nach dem langen Haarzopf der Bedienung. Er verfehlte ihn und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.
»Jetzt reiß dich halt endlich zusammen, Rudi, bittschön.«
Anstatt erwartungsvoll das Handy anzustarren, drückte Süden die Wahlwiederholung und rief Adrian an. Nach mehrmaligem Klingeln sprang die Mailbox an, was bedeutete, Adrian hatte nicht ausgeschaltet und die Nummer im Display gesehen. Möglicherweise hatte Süden einen Fehler begangen, indem er sich zu erkennen gab. Vielleicht wäre Adrian drangegangen, wenn er sich sicher gewesen wäre, dass seine Freundin aus dem Zeno-Haus anrief.
Der SMS -Ton erschreckte ihn.
die mama braucht mich nich, die brauchen mich ale nich.
Wie aus Trotz wählte Süden noch einmal die Nummer. Diesmal sprang die Mailbox sofort an.
Er steckte das Handy in die Hosentasche, ging zur Wand neben der Tür, lehnte sich dagegen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
Das Empfinden, nicht gebraucht zu werden, kannte er aus vielen Vermissungen früherer Jahre, aus Hunderten von Gesprächen mit Menschen, die er nach wochen- oder monatelanger Suche aufgespürt und in ihre alte Wirklichkeit zurückgebracht hatte. Mich braucht hier niemand, sagten sie dann, was soll ich wieder hier?
Manche verzweifelten darüber, gefunden worden zu sein. Andere begannen ein neues Leben, das überquoll von Lügen und falschen Gesichtsausdrücken. Einige schämten sich zeitlebens oder verfluchten ihre Angehörigen, weil sie ihnen die Polizei auf den Hals gehetzt hatten.
Die brauchen mich alle nicht.
Süden stand da, an die Wand gelehnt, und der Satz hallte in ihm wider. Adrian war zehn Jahre alt, er war eigenwillig und störrisch und offensichtlich angefüllt mit Zorn. Er forderte seine Eltern heraus, sein Vater schlug ihm ins Gesicht, und seine Mutter ignorierte ihn. Er war umzingelt von Fremden, die behaupteten, für ihn zuständig zu sein. Dabei waren sie in seinen Augen für niemand als für sich selbst zuständig. Was er tat, war falsch. Was er nicht tat, auch. Vermutlich kam ihm sogar sein Schatten verkehrt vor, so, als gehöre er in Wahrheit zu einem anderen Kind. Dann lieferten sie ihn im Zeno-Haus ab. Dort traf er Fanny, die ihn sogleich erkannte. Etwas mehr als einen Monat lebte er seither in dem Haus, und er schien sich aufgehoben zu fühlen und zornloser zu werden. Aber das stimmte womöglich nicht.
Adrian hütete ein Geheimnis, von dem vermutlich nicht einmal Fanny wusste. Trotzdem verriet sie ihn nicht. Sie ließ ihn nicht allein, als er entschieden hatte, »Sachen zu machen«. Fanny blieb seine Schwellenwächterin, auch wenn er sie in seine Pläne nicht eingeweiht hatte. Sie hielt zu ihm, was immer auch passierte.
Süden bewunderte das Mädchen. Und er bewunderte auch den Jungen für seine Entschlossenheit und seinen Willen, sich von niemandem, auch nicht von den
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