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Süden und die Schlüsselkinder

Süden und die Schlüsselkinder

Titel: Süden und die Schlüsselkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Wochenende aus ihrem Heimatdorf Taging nach München abhaute, wie einen Trip zum Mittelpunkt der Erde. Mehr brauchte er nicht zu sehen. Das war die Welt, in der er existieren wollte, ganz gleich, was manche Leute über die Stadt an der Isar sagten und ob sie sie für provinziell, konservativ oder selbstgefällig hielten. Alles Ahnungsarme, dachte Süden seit jeher. Solchen Leuten mangelte es an Sehvermögen und der Fähigkeit, Schatten zu lesen. Und das hatte Süden gelernt.
    Von dem Tag an, an dem er seinen ersten Wohnsitz in München anmeldete, und später, als Vermisstenfahnder, begegnete er allen möglichen Gesichtern einer gewöhnlichen Großstadt und fühlte sich am richtigen Lebensplatz. Dass ihm München trotzdem gelegentlich wie eine im eigenen Saft schmorende Supergans vorkam, schob er auf den übermäßigen Genuss gespenstischer Biersorten oder die versehentliche Lektüre von Verlautbarungen aus dem Rathaus.
     
    Ludwig Richter stand vor dem »Carlos« und rauchte. Während er die Zigarette in der rechten Hand hielt, stützte er sich mit der linken an der Hausmauer ab. Der Wind blies ihm ins bärtige Gesicht, und er atmete mit offenem Mund. Den knöchellangen Wildledermantel trug er offen, dazu eine Mütze mit Fellbesatz und Ohrenschützern. Das weiße Hemd hing ihm aus der grauen fleckigen Hose. Sein Oberkörper schwankte, und er hatte Mühe, die Hand flach an der Wand zu halten.
    In Minutenabständen kamen Gäste nach draußen und zündeten sich eine Zigarette an. Einige redeten miteinander. Richter blieb für sich.
    Süden stellte sich neben ihn, verschränkte die Hände hinter dem Rücken, atmete kalten Rauch ein.
    Die Straßenlampen brannten, es wurde dunkel, der harte Schnee knirschte unter den Stiefeln vermummter Gestalten. Süden hatte seine Wollmütze über die Ohren gezogen und den grauen Schal um den Hals geschlungen. Er fror unwesentlich.
    »Was genau?« Richter gab ein Geräusch der Erschöpfung von sich und dirigierte seine rechte Hand zum Mund.
    »Tabor Süden.«
    Richter machte einen Zug, inhalierte tief, ließ den Arm fallen. »Und weiter?«
    »Wo ist Ihr Sohn, Herr Richter?«
    »Sie sind das!«
    »Wo ist Adrian?«
    Mit einem Ruck entfernte Richter sich von der Wand. Schwankend trat er die Kippe aus und riss den Mund weit auf. So verharrte er. Dann schüttelte er sich und grinste. »Sie haben gedacht, er wär hier. Sie haben gedacht, mein Sohn sitzt allen Ernstes am zweiundzwanzigsten Dezember an der Bar vom ›Carlos‹ und trinkt Bier. Wie ich. Das haben Sie geglaubt, unglaublich.«
    »Ich dachte, vielleicht hatte er Sehnsucht nach Ihnen.«
    Der Mann stieß ein lautes, gehässiges Lachen aus. Die beiden Raucher neben ihm unterbrachen abrupt ihr Gespräch. Richter drehte sich zu ihnen um. »Ist was passiert? Zeppelin abgestürzt? Bist du von der Stasi? Schleichst du hier unbescholtenen Gästen hinterher?«
    Der etwa dreißigjährige Mann warf seinem Begleiter einen Blick zu. Sie steckten die Zigaretten in den mit Sand gefüllten Aschenbecher neben der Tür und gingen wortlos zurück in die Kneipe. Richter fuchtelte mit der Hand. »Wie bei uns im Geschäft: Jeder bespitzelt jeden. Was wollen Sie eigentlich von mir? Ich weiß nicht, wo mein Sohn ist.«
    Süden sagte: »Sie haben mich angelogen.«
    Richter zuckte mit der Schulter, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, nickte, zog die Tür auf und ging hinein. Süden erwischte die Tür gerade noch, bevor sie zufiel.
    In dem weitläufigen, in dunklem Holz gehaltenen Lokal saßen nur vereinzelt Gäste. Auf allen Tischen brannten Kerzen. Loungemusik spielte. Am Rand des langen Tresens stand ein Adventskranz mit vier weißen, brennenden Kerzen. An einem kleinen Tisch neben der Tür saß zusammengesunken ein dünner Mann in einem roten Rollkragenpullover und mit einer schief sitzenden Nikolausmütze. Vor ihm stand ein halbvolles Bierglas.
    Der Barkeeper, ein dunkelhäutiger Mann Mitte dreißig, unterhielt sich mit der Bedienung, deren kunstvoll geflochtener rückenlanger Haarzopf Süden sofort ins Auge fiel.
    »Hände weg von Natascha«, sagte Richter, als Süden sich neben ihn an die Bar stellte. »Und setz dich hin, hier wird nicht gestanden.«
    »Ich stehe lieber.«
    »Noch ein Helles und ein Dunkles, Ronny«, rief Richter dem Barkeeper zu, der sofort näher kam.
    Ronny sah Süden an. »Guten Abend. Bitte?«
    Süden passierte etwas Ungewohntes: Er wusste nicht, was er bestellen sollte.
     
    Wenn er anfing, Bier zu trinken, würde er nach dem

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