Süden und die Schlüsselkinder
ersten nicht aufhören. Es spielte für ihn keine Rolle, ob er sich in einer Ermittlung befand oder als der übliche Gasthausbewohner unterwegs war. Nach zwei Bieren folgten gewöhnlich zwei weitere, wie der erste Advent unweigerlich auf den vierten zusteuerte. In seiner Zeit als Kommissar hatte er, vor allem gegen Ende seiner Dienstzeit, nur deswegen nichts oder selten etwas getrunken, weil er auf seinen Freund Martin aufpassen musste, dessen Alkoholabhängigkeit bedrohliche Ausmaße angenommen hatte. Als Detektiv kümmerte er sich – trotz der Ermahnungen seiner Chefin, die ihm immerhin ein monatliches Salär bezahlte – wenig um die Meinung der Leute zu seinem Trinkverhalten. Er achtete darauf, Kunden der Detektei nicht mit einer Fahne zu begegnen und in deren Gegenwart nicht mehr zu trinken als sie selbst.
Bei der Suche nach dem zehnjährigen Adrian Richter wollte er einen klaren Kopf behalten und seine Sinne schon gar nicht von einem Gleichgültigkeit und Selbstgefälligkeit ausdünstenden Vater benebeln lassen.
»Ein Helles«, sagte Süden zum Barkeeper.
Der erste Impuls hatte gesiegt.
Richter stützte die Arme auf den Tresen und betrachtete sich in der Spiegelwand hinter den Flaschenregalen. Er hatte immer noch die Pelzmütze auf und den Mantel an. Der Barkeeper brachte zwei Helle und einen Fernet auf Eis, den Richter sofort austrank.
Erst jetzt stellte Süden fest, dass in dem Lokal Spatenbier ausgeschenkt wurde.
Durch dauerhaften Konsum von Spatenbier, davon war Süden überzeugt, grub jeder Trinker sich sein eigenes Grab. Insofern war der Name angemessen.
Wie schon Hannah Richter fragte Süden deren Mann: »Haben Sie keine Angst um Ihren Sohn?«
Und wie sie sagte er: »Der schafft das schon.«
Süden brauchte eine Weile, um seinen Zorn unkenntlich zu machen. »Was schafft Ihr Sohn, Herr Richter? Sie haben eine Vermutung, wo er sein könnte.«
Richter nahm die Mütze ab, strich sich mit dem Ellbogen über den Kopf, legte die Mütze auf den Hocker neben sich. Seine rotblonden Haare waren zerzaust und sahen fettig aus. Er schwitzte, dachte aber nicht daran, den dicken Mantel auszuziehen.
»Der ist nirgends, der tut bloß so«, sagte er, mehr zu sich selbst im Spiegel als zu Süden. »Seine Mutter hat fast einen Nervenzusammenbruch wegen dem gekriegt, der ist ein Berserker, der bildet sich was ein, und wenn er es nicht kriegt, tickt der aus. Der brüllt rum, schmeißt Sachen durch die Gegend, unglaublich. Haben Sie den mal gesehen? Ein Brackel ist das, keine Ahnung, wie viel der inzwischen wiegt, für ein Kind jedenfalls zu viel. Ich hab ihn nicht gemästet, seine Mutter auch nicht, der ist einfach so. Wieso, glauben Sie, ist der in dem Haus da? So was passiert doch nicht einfach. Wer gibt denn sein Kind einfach weg? Niemand.«
Süden brauchte etwas Stille nach dem schnarrenden, geifernden Tonfall. Dann sagte er: »Sie haben ihn weggegeben.«
»Ich erklär Ihnen grad was, hören Sie mir nicht zu? Wir haben ihn nicht weggegeben, wir hatten keine Wahl. Seine Mutter ist Amok gelaufen, die konnt den Kerl nicht mehr bändigen. Und ich war den ganzen Tag in der Arbeit, oft auch sonntags, als die Geschäfte noch besser liefen. Wir hatten Schautage am Sonntag, die Kunden konnten sich in Ruhe die Autos anschauen, ohne sich entscheiden zu müssen. Keine Beratung. Vergessen Sie das jetzt. Ich war nicht da, und Hannah hat’s nicht mehr gepackt. Was würden Sie mit so einem Jungen machen? Verprügeln?
Ich nicht. Eine Ohrfeige hin und wieder, klar, im äußersten Notfall, wir prügeln nicht, solche Eltern sind wir nicht, da gibt’s ganz andere. Bei mir im Haus drüben wohnen Türken, gute Leute an sich, er bei Siemens, alles geregelt. Aber wenn der nach Hause kommt und die Töchter tragen keine Kopftücher, dreht der Moslem durch. Was wollen Sie machen? Ist seine Familie, geht mich nichts an. Der stammt aus einer Sippschaft, wo die Töchter schon mit zwanzig silberne Hochzeit feiern, Sie verstehen, was ich sagen will. Ein gewalttätiger Fundamentalist, der hier in Haidhausen ein biederes Leben zur Schau stellt. Ich bin nicht blind.
Ich prügel mein Kind nicht. Meine Frau auch nicht. Wehren muss man sich trotzdem, oder was? Wir haben uns gewehrt, was hat uns das gebracht? Irgendjemand hat das Jugendamt angerufen. Eines schönen Tages stand eine Psychologin vor meiner Tür und wollt mir erklären, wie man mit Kindern umgeht. Hab sie weggeschickt. Kam sie wieder, brachte einen Kollegen mit, auch
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