Süden und die Schlüsselkinder
Geruch nach Medikamenten und altem Mobiliar ein. Die weißen Ledermöbel passten nicht zur braunen Schrankwand, dem alten Kasten des Röhrenfernsehers, den schweren dunklen Vorhängen, den abgetretenen Teppichen, dem Regal voller Zinnbecher und Zinnteller, den zwei gerahmten Gemälden, von denen eines eine Berglandschaft und das andere eine junge Frau in einem Blumengarten zeigte – beide Bilder von Kunstwerken so weit entfernt wie diese Wohnung von jeglichem Lebenselixier.
Berghof hatte seinem Besucher wortlos die Wohnungstür geöffnet, ihm zugehört, als Süden den Grund seines Besuchs nannte, und ihm unaufgefordert ein Glas Wasser in die Hand gedrückt. Nachdem beide sich gesetzt hatten, sagte Berghof: »Sie waren früher bei uns, ich erinnere mich an Ihren Namen.« Und Süden hatte ja gesagt. Berghof nickte behäbig, immer wieder, ächzte, kratzte sich unter der Decke am Bauch und schien sich am Schweigen nicht zu stören.
Nach seinem sphärischen Dialog mit Adrian setzte Süden die Zeitangst etwas weniger unter Druck. Er wartete, bis sein Gegenüber ausreichend Atem für eine erste Bemerkung geschöpft hatte.
»Sie kommen wegen dem Jungen«, sagte Berghof.
Süden fragte ihn, wie er seine Beziehung zu Adrian beschreiben würde.
»Das ist schwer zu erklären«, begann der ehemalige Polizist. Danach verging mehr als eine Minute, bevor er die Kraft für neue Worte fand. »Der Kleine trottete so mit. In den Ferien jeden Tag, würd ich sagen. Ich hab ihn gefragt, ob er nicht lieber mit seinen Freunden spielen will, anstatt mit mir durch die Straßen zu laufen und mir zuzusehen, wie ich Fahrzeuge kontrolliere, den Bürgern Rede und Antwort stehe und mir ihre Alltagssorgen anhöre.«
Er hustete mit gebeugtem Kopf, sein Oberkörper schwankte vor und zurück. »Er hat dann immer gesagt, ich wär doch sein Freund und er sei gern mit mir zusammen, er würde dann viel erleben und nachts schöne Träume haben.«
»Schöne Träume«, sagte Süden. »Adrian ist ein verträumtes Kind.«
»Ich weiß nicht, was für ein Kind er ist. Eines, das keine Freunde hat, offenbar. Kennen Sie Freunde von ihm? Kannten Sie ihn, bevor er verschwunden ist?«
»Nein. Ich kenne eine Freundin von ihm aus dem Sankt-Zeno-Haus, das ist ein Schutzhaus für Kinder aus zerbeulten Familien, die dort zeitweise wohnen und betreut werden. Das Mädchen heißt Fanny.«
Berghof schüttelte bedächtig den Kopf. Erst jetzt bemerkte Süden neben dem Sessel einen Teewagen, auf dessen Glasplatten Unmengen von verschiedenfarbigen Tablettenschachteln, Pillenröhrchen und teilweise gebrauchten Papiertaschentüchern lagen.
»Hab lang nicht mehr mit ihm gesprochen«, sagte Berghof mit brüchiger Stimme. »Fast ein Jahr nicht mehr, würd ich sagen. Wissen Sie, womit er am liebsten gespielt hat, früher, schon als Sieben- oder Achtjähriger? Wenn wir gemeinsam unterwegs waren, den ganzen Tag oft, mit Mittagspause im Bella Italia oder anderswo. Wissen Sie, womit er sich während des ganzen Essens beschäftigt hat?«
Süden sagte: »Er simste.«
»Sie kennen ihn doch! Ja, das tat er, er schrieb an seine Mutter, auch an seinen Vater, ich weiß nicht, an wen alles, hab ihn nicht gefragt. Er hatte die Erlaubnis, kontrolliert hab ich ihn nicht. Doch, einmal. Einmal, ja. Das ist seltsam, dass mir das gerade heut einfällt, gerade jetzt, wo Sie da sind. Daran hab ich nie mehr gedacht seitdem, und das ist mindestens zwei Jahre her. Wie alt war er damals? Sieben?«
»Acht.«
»Acht. Kann hinkommen. Ich wollte ihn nicht kontrollieren.«
Nach einer langen Pause, in der er sich ein wenig zurücklehnte, ohne die Rückenlehne zu berühren – anscheinend wollte er nur aufrecht dasitzen, vielleicht um besser atmen zu können –, sagte Berghof: »Das war ein paar Tage vor Weihnachten, um den zwanzigsten herum. Welchen haben wir heut? Spielt keine Rolle. Sie sind noch jung, Süden, da muss man jeden Tag wissen, was die Stunde geschlagen hat. In meinem Alter und Zustand nicht mehr. Wenn der Fährmann ans Fenster klopft, muss man bereit sein, das ist alles. Verzeihen Sie die Abschweifung. An jenem Tag hatte ich ein langes Gespräch mit einer alten Frau aus der Kellerstraße, sie fürchtete sich vor ihren neuen Nachbarn. Inder waren das, zwei junge Männer, Studenten, aber die alte Frau hielt sie für Drogendealer oder Gesindel. Sie war sehr aufgebracht, ich musste ihr versprechen, mit den Männern zu reden und mir ihre Ausweise zeigen zu lassen. Am besten sollte ich sie
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