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Süden und die Schlüsselkinder

Süden und die Schlüsselkinder

Titel: Süden und die Schlüsselkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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aufs Revier mitnehmen und ordentlich in die Mangel nehmen, wie sie sich ausdrückte. Ich war, glaub ich, drei Stunden bei ihr in der Wohnung, sie servierte Tee und Schnaps, und wenn ich Schnaps angeboten krieg …«
    Wieder kniff er die Augen zusammen, seine Schultern krümmten sich, diesmal vielleicht nicht aus Schmerz, sondern wegen eines Nachgeschmacks, vor dem ihm ekelte. »In der ganzen Zeit war Adrian draußen auf der Straße, es schneite. Daran erinnere ich mich jetzt. Ja, es hatte angefangen zu schneien an diesem Tag, und ich hatte ihm die Telefonnummer der alten Frau und mein Handy gegeben, damit er mich im Notfall erreichen konnte. Als ich aus dem Haus kam, stand er da, voller Schnee auf seinem roten Anorak, mit rotem Gesicht, schlotternd und ausgehungert. Wir haben gleich zwei Brezen gekauft, und er hat sie verschlungen. Wo er gewesen sei, wollte ich natürlich wissen, aber er meinte nur, er habe den Schneeflocken zugesehen und Schneebälle geworfen und ein paar SMS geschrieben, an seine Mama und seinen Papa. Das war gelogen.«
    Berghof sah Süden aus großen, gelb verschatteten Augen an.
    »Er hat mich angelogen, und wenn ich zu Hause nicht nachgeschaut hätte … Ich weiß nicht mehr, warum, ich wollte ihn bestimmt nicht kontrollieren, das hab ich Ihnen schon gesagt, ich hatte ja Vertrauen zu ihm. Trotzdem nahm ich hier in der Wohnung das Handy und schaute unter ›Gesendete Nachrichten‹ nach. Warum hab ich das getan? Neugier? Nein. Ich tat es einfach, saß in diesem Sessel und tippte auf dem Handy herum, was ich sonst nie tat. Wenn ich nach Hause kam, schaltete ich das Ding aus, und damit war der Tag beendet. Wer mich sprechen wollte, konnte mich übers Festnetz erreichen, wie üblich, wie früher. Meldete sich eh niemand. Dann sah ich, wem er tatsächlich die Nachrichten geschickt hatte, während ich bei der alten Frau in der Kellerstraße festsaß und anfing, ihren Schnaps zu trinken. Wissen Sie, an wen er geschrieben hat?«
    »Nein«, sagte Süden.
    »Er schrieb an mich! Er schickte die Nachrichten an das Handy, auf dem er sie schrieb. Kurze Sätze bloß: ›Bin jetzt in der Straße‹, oder: ›Jetzt schneits viel‹, oder: ›Wo bleibst du so lang?‹ Solche Sachen schrieb er, mindestens zwanzig Nachrichten. Als würde er mit sich selber sprechen. Das waren ja keine Botschaften an mich für später, Grüße oder Ähnliches, im Grunde schrieb er an sich selbst. So vertrieb er sich die Zeit. Wahrscheinlich hätte ich es irgendwann sowieso bemerkt, aber das hätte Wochen dauern können. Ich kannte niemanden, dem ich eine SMS hätte schicken können oder wollen, und mir schickte auch niemand eine. Diese Funktion meines Handys wäre überflüssig gewesen, wenn Adrian sie nicht genutzt hätte. Im Grunde hätte ich das ganze Handy nicht gebraucht, ich trug es wegen meiner Dienststelle, mein Vorgesetzter hatte darauf bestanden. Ich hätte keines gebraucht.«
    Er kratzte sich wieder unter der Decke, röchelte mit halboffenem Mund.
    Süden trank einen Schluck Wasser, das lau geworden war.
    »Sie haben mit dem Jungen nicht darüber gesprochen.«
    »Nein«, sagte Berghof.
    »Wo ist Ihr Handy jetzt?«
    »Kaputt. Hab mir kein neues besorgt. Wozu? Spätestens Ostern seh ich die Primeln von unten, und da unten ist kein Empfang für niemand. Ich hab noch sehr viel Schnaps im Kühlschrank, möchten Sie ein Glas? Ich schau Ihnen zu, wie Sie trinken, meine Trinkzeit ist zu Ende, ein für alle Mal.«
    Im Flur klingelte das Festnetztelefon. Berghof reagierte nicht. Nach dem fünften Klingeln war es wieder still.
    »Sie haben keinen Anrufbeantworter«, sagte Süden.
    »Ich antworte schon lang nicht mehr.«
     
    Das war das letzte Mal, dachte Adrian, dass er versucht hatte, seinen alten Freund zu erreichen. So lange hatte er ihn schon nicht mehr gesehen, weil seine Eltern ihm den Umgang mit dem Polizisten verboten hatten. Er hatte nie verstanden, wieso. Wie so vieles andere, was er nie verstanden hatte. Bestimmt hätte Gregor einen Rat gewusst.
    Adrian drehte das kleine silberne Telefon zwischen den Händen. Wieso, fragte er sich, hatte Gregor ihn weggeschubst, so wie alle anderen ihn weggeschubst hatten?

[home]
    10
    E twas hatte er übersehen, davon war Süden überzeugt, je länger er im Wohnzimmer des ehemaligen Polizisten saß und aus dessen Sätzen eine Spur herauszulesen versuchte.
    Etwas stimmte nicht mit dem, was er bisher gedacht und vermutet hatte, etwas fehlte, etwas hatte er überhört. Denn gleichzeitig

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