Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)
Die Türen wurden schon geschlossen. Sie rannte zum zweiten Waggon. Und ließ sich auf einen Einzelplatz fallen. Die Tram ruckte an.
Unauffällig würde sie mit der Krankheit weiterleben. Die Kneipe betreiben. Medikamente nehmen. Kein Aufsehen. Kein Gejammer. Vielleicht würde sie im Gesundheitszentrum ein paar interessante Frauen kennenlernen. Neue Gäste fürs »Glücksstüberl«.
Mit dem Ärmel wischte sie über die Scheibe. Und blickte hinaus in die bewohnte Welt. An der nächsten Haltestelle wollte sie endgültig aussteigen. Und die U-Bahn nehmen. Sie hatte Lust, noch jemanden zu besuchen.
An die Frage, wer schuld an ihrer Krankheit war, erlaubte sie sich nicht zu denken. Sie hatte jetzt realere Sorgen.
Sie holte das Handy aus der Umhängetasche.
»Iris?«
12
E r ist der Einzige im Skilift. Und er hat keine Skier an den Schuhen. Auch trägt er keine Skischuhe. Sondern gewöhnliche Halbschuhe mit rauher Ledersohle. Er hat die Kleidung an, die er immer anhat. Schwarze Jeans. Jeansjacke mit Webpelzkragen. Pullover darunter. Es ist nicht kalt. Aber es schneit. Je höher der Lift fährt, desto stärker schneit es. Kleine wilde Flocken. Die aus Wolken fallen, die er nicht sieht. Er schaut nicht nach oben. Immer nur nach vorn. Der Hang steigt an. Der Lift fährt schneller. Er sitzt auf einem harten Plastiksessel. Und hält sich nicht fest. Seine Hände liegen im Schoß. Er hat keine Angst. Die schnelle Fahrt gefällt ihm. Er atmet die kalte Luft, die gerade so kalt ist, dass sie kühlt. Und nicht schmerzt.
Dann hört die Schneedecke unter ihm auf. Die Wiesen sind mattgrün. Die Bäume blassbraun. Die ganze Landschaft sieht aus, als bekomme sie zu wenig Licht. Jetzt muss er aussteigen. Er springt. Er wird gestoßen. Da ist niemand. Und doch spürt er einen Schlag im Rücken. Und fällt zu Boden. Nicht weit. Kein Absturz. Ein kurzer Fall. Er liegt auf dem Rücken. Über ihm der Himmel ist schwarz. Und gleichzeitig hell. Das muss so sein. Er bemerkt das paradoxe Licht. Und denkt, so ist das hier. So ist das immer hier. Auf dem Berg. Mit den Bäumen ringsum. Dem Gestrüpp. Den farblosen Farnen. Er steht auf. Und plötzlich ist alles voller Schnee. Bis zu den Waden steht er im Schnee. Und der Schnee ist rot wie Blut. Und auch das kommt ihm normal vor. Hier ist der Schnee aus Blut, denkt er. Und dann macht er einen Schritt. Und stellt fest, dass er Widerstände überwinden muss. Wie in hart gefrorenem Schnee. Er bildet sich ein, ein Knirschen zu hören. Könnte auch ein Vogel sein. Kein Tier zu sehen. Keine Geräusche. Nur die, die er selber verursacht. Er stapft durch gefrorenen Blutschnee. Er hebt die Beine an. Und rudert mit den Armen. Und dann bemerkt er den Geruch.
Ein Geruch wie von Eisen. Wie in einer Autowerkstatt. Er muss an eine Garage in der Townsend Avenue denken. Nicht weit von seiner Wohnung entfernt. Der Besitzer, Ronny, bastelt dort jedes Wochenende an seinem Chrysler. Und wenn es regnet, lässt er das Tor herunter. Und es riecht nach Maschinenöl und Gummi und Metall. So wie jetzt. Wie frisch poliertes Metall. So riecht der Schnee, in den er immer tiefer sinkt. Der Schnee reicht ihm schon bis zum Bauch. Er kann kaum noch die Beine heben. Er versucht es. Dann hat er einen Einfall. Er greift in den Schnee. Und hält sich eine Handvoll vor die Nase. Ein angenehmer Geruch. Und weil er nicht widerstehen kann, reibt er sich den Schnee ins Gesicht. Über die Augen. Den Mund. Und leckt mit der Zunge darüber. Und merkt, dass er tiefer sinkt, ohne zu versinken. Als würde der Blutschnee mit ihm sinken. Und er sinkt immer schneller. Ihm wird schwindlig. Das macht nichts. Er reibt weiter über sein Gesicht. Und er denkt, ich muss ganz rot sein. Über und über voller Blut. Und die Leute werden meinen, ich hab jemanden umgebracht. Ich fall ja auf mit so einem verschmierten Körper. Und plötzlich widert es ihn an aufzufallen. Er hat keine Lust, angeglotzt zu werden. Piss off! Kümmert euch um euch selber! Und er will harten Schnee nach ihnen werfen. Doch er greift ins Leere. Da ist nichts mehr. Er streckt die Arme aus. Er weiß nicht, wo er sich befindet. Nicht mehr auf dem Berg. Nicht im Skilift. In einer Ebene. In einer menschenleeren Stadt. Er geht eine Straße entlang. In den Häusern wohnt niemand. Er ist allein. Die Straße bröckelt an den Seiten ab. Vielleicht geht er auf einem Bahndamm, auf dem die Schienen fehlen.
Der Schrei einer Frau ertönt. Ein schriller Schrei. Er dreht sich um. Die Stadt liegt
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