Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)
unwiderruflich. Was er tat, musste er tun. Und er tat es aus freien Stücken. Er war ganz eins mit dem Schmerz, den er nicht einmal spürte.
Als ließe er die geschliffene Spitze des Messers über die Haut eines anderen fahren. Als wäre das Blut nicht von ihm. Als wäre dies nicht sein Bauch. Sein Oberschenkel. Sein Geschlecht.
Mit der einen Hand griff er zu, mit der anderen schnitt er durch die schwarzen Haare ins weiche Fleisch, in das Alice ihre Fingernägel gegraben hatte. In einer lang zurückliegenden Leidenschaft.
Crickets are chirpin’, the water is high,
sang er leise,
there’s a soft cotton dress on the line hangin’ dry …
Er musste tiefer, noch tiefer schneiden.
Sie fuhr die Strecke bis zum Petuelring. Und wieder zurück bis zur Endstation im Osten der Stadt, in der Nähe eines Friedhofs und der Strafanstalt. Niemand sprach sie an. Und niemand stieg ein, der sie womöglich kannte. Das war ihre Sorge gewesen. Ein Bekannter kommt auf sie zu und reißt sie aus der Obhut der gleichgültigen Menschen.
Hose und Bluse klebten ihr am Körper. Der Mantel trocknete in der dampfigen Wärme der Tram. Die Schuhe, die sie wieder angezogen hatte, kamen ihr weich vor.
Nichts hatte sich verändert. Und alles war anders. Sie hätte nicht sagen können, was passiert war, seit sie den Steuerberater in Gern verlassen hatte. Und Stunde um Stunde durch die Stadt fuhr. Hier war sie geboren. Hier war ihre Schule. Hier war ihr Vater beerdigt. Hier hatte sie ihren Beruf ausgeübt. Die Straßen. Die Häuser. Die versteckten Winkel. Die Lokale. Die Bars. Die Kaufhäuser. Alles vertraut. Einige Jahre war sie nur selten aus einer bestimmten Straße herausgekommen. Aus einem bestimmten Haus. Sogar aus einem bestimmten Zimmer. Und nun hatte sie ein neues Leben begonnen. Wieder in dieser Stadt. In einem anderen Viertel. Ohne die Hilfe geldgieriger Männer.
Und wenn sie damals mitgegangen wäre mit dem Kerl aus Hamburg? Der war in Ordnung gewesen. Sie hatte ihm vertraut. Er hätte sie ausbezahlt. Er hätte ihr eine Wohnung in Blankenese eingerichtet. Sie hatte ihm geglaubt. Auch wenn er aus derselben Branche war. Und dieselben Tricks beherrschte. Und vier Jahre im Knast gesessen hatte wegen versuchten Totschlags. Was, wenn sie mit ihm gegangen wäre?
Wäre sie dann nicht krank?
Das Wort ging ihr nicht aus dem Kopf: krank. Sie haben eine Krankheit, hatte die Ärztin gesagt. Und dann: Sie sind nicht allein. Sie können lange leben.
Sie können lange leben.
Sie können lange leben.
Wer garantierte das? Die Ärztin nicht. Die Medizin? Die Technik? Es gibt keinen Grund, an das Ende zu denken, sagte die Ärztin. Planen Sie Ihre Zukunft! Lassen Sie sich nicht gehen!
Doch genau das war das Wunderbare. Beinah hätte Ariane diesen Satz laut ausgesprochen: Sie hatte sich gehenlassen. Und nun fühlte sie sich besser. Viel besser. Nichts anderes hatte sie getan. Sich gehenlassen. In den Betten von Männern. In schlecht riechende Laken gehüllt. Den Geschmack von fremdem Schweiß und rauher Haut im Mund. Geschlagen. Misshandelt. Auf eigenen Wunsch.
Es war ihre Entscheidung gewesen, das alte Adressbuch herauszukramen und darin nach Namen zu suchen. Und sich anschließend auf den Weg zu machen. Da war niemand, der ihr die Richtung wies.
Und eigenartig war auch, wie normal die Dinge abliefen.
Auf dem kahlen Baum, unter dem sie stand und eine kleine Flasche Mineralwasser trank, schrie eine Krähe. Drüben am Kiosk redeten Männer laut miteinander. Es hatte aufgehört zu regnen. Ein eisiger Wind wehte. Und der Fahrer der Straßenbahn stand vor seiner Kabine und rauchte.
Was hatte Ariane erwartet? Dass der Himmel sich auftat und eine Stimme rief: Jetzt leben! Sie lebte doch, oder nicht? Hatte sie geglaubt, sie würde von einer kosmischen Euphorie gepackt? Jetzt erst recht! Jetzt jede Minute bewusst erleben! Jeden Atemzug zelebrieren!
Absurd und wirklich zugleich kam ihr dieser Zustand vor. Sie hielt die kleine Flasche in der Hand und wartete darauf, wieder einsteigen und losfahren zu können.
Sie merkte nicht, dass sie zitterte. Sie merkte nicht, dass zwei Männer sie anstarrten und eindeutige Bewegungen mit den Händen machten. Sie hörte die Krähe schreien.
Ariane blieb noch stehen. Der Fahrer trat seine Zigarette aus und drehte sich zur Tram um.
Sie war keine Nutte mehr. Sie war Teilhaberin eines gastronomischen Betriebs. Sie führte ein normales Leben.
Das war wirklich ein euphorischer Gedanke. Sie musste sich beeilen.
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