Süden und die Stimme der Angst: Roman (German Edition)
nicht mit fremden Männern, schon gar nicht ohne Kondom, das habe ich nie getan. Das wäre wahr gewesen und doch auch eine Lüge. Alles, was ich gesagt habe, stimmte und war falsch. Nichts ist mehr eindeutig, und ich weiß gar nicht, ob es überhaupt eine Eindeutigkeit gibt. Vielleicht habe ich mich mein Leben lang getäuscht. Das macht mir Angst, ich rede mir Sachen ein, damit ich mich nicht vor die U-Bahn werfe. Das Erste, was die Ärztin zu mir sagte, nachdem sie mir das Ergebnis des Bluttests mitgeteilt hatte, war, dass die Medizin große Fortschritte gemacht hat und man trotz der Infizierung uralt werden kann. Uralt. Das habe ich ihr von Anfang an nicht geglaubt, aber ich war froh, dass sie sich solche Mühe gab. Bei Enzo haben wir oft wochenlang über nichts anderes geredet, wir sind regelmäßig zum Test gegangen, wir waren ein sauberes Team, bei uns war nie eine infiziert. Bei bestimmten Männern waren wir uns sicher, dass sie krank sind. Und wenn wir mitgespielt hätten, dann hätten sie es ohne Gummi mit uns gemacht. Sie wollten uns die Krankheit heimzahlen. Aber wir haben nie mitgespielt. Und jetzt habe ich solche Angst und weiß nicht, wohin mit meiner Angst. Warum werde ich bestraft? Warum darf ich nicht das Leben führen, das ich will?«
Schilff blätterte um. Und blätterte zurück. Und durch das offene Fenster weht Reggaemusik herein. Und ein Sonnenstrahl fällt auf die bauchige blaue Tasse, aus der er Kaffee mit viel Zucker trinkt. Die lustigen Sachen stehen auf den Vermischtenseiten. Und er liest etwas über seine Heimatstadt und ist erleichtert, nicht dort zu sein. Trotzdem liest er die Geschichte von dem Ehemann, der seine Frau tot in der Wohnung fand, anscheinend von einem Einbrecher erschlagen. Bald darauf überführt die Polizei den Ehemann. Sein Plan hat nicht funktioniert. Er plante seine Zukunft mit einer Geliebten in Afrika. Schilff verachtet den Mann für seine Tat. Der hätt einfach gehen sollen und fertig. Ein wichtigtuerischer Mord.
Für einen Moment vergaß er, wo er war. Er schaute auf. Etwas irritierte ihn. Die Musik war nicht mehr zu hören, der Friedhof nicht mehr zu sehen. Nur eine Mauer. Eine hohe Mauer. Auf die fiel gelbes Licht. Hinter ihm knackte etwas. Er drehte den Kopf. Da tauchte ein Holzstuhl auf. Ruckte vorwärts. Schrammte am Türrahmen entlang. Und an die Sitzfläche klammerten sich zwei Hände.
Wie nach einem Stück Treibholz griff Ariane immer wieder nach dem Stuhl. Rutschte ab. Schlug mit dem Gesicht auf dem Boden auf. Streckte die Arme. Ihre Finger glitten über das Holz. Der Stuhl hatte kleine Rädchen und drehte sich. Und wenn sie ihn zu fassen kriegte, bewegte er sich nach rechts. Oder links. Und sie versuchte ihn festzuhalten.
So gelangte sie über den Flur in die Küche. Sie hatte ihr T-Shirt an und jetzt gelbschwarze Leggings. Die verrutschten dauernd. Und hastig zog sie sie mit einer Hand hoch.
Die Beine hinter sich herschleifend, robbte sie auf dem Bauch. Jeder Zentimeter Weg dauerte ewig.
Erschöpft ließ sie den Stuhl los. Der prallte gegen die Spüle.
Ariane lag flach auf dem Steinboden, den Kopf zur Seite gedreht, das Gesicht von Schlieren und Flecken entstellt.
Schilff musste würgen. Er sprang auf und übergab sich in den Ausguss. Er hörte ein Patschen. Und als er sich gebückt umsah, schlug Ariane mit der flachen Hand auf den Boden. Als wolle sie ihn auffordern, sofort mit der Kotzerei aufzuhören. Sie schaute aus halb geschlossenen Augen zu ihm hoch.
Er drehte den Wasserhahn auf, spülte den Mund aus und wischte ihn mit einem Geschirrtuch ab. Seine Beine zitterten.
Aus ihrem geschlossenen Mund kam ein Wimmern. Mit unendlicher Anstrengung kletterte sie auf den hölzernen Drehstuhl. Wie ein Kind, das zum ersten Mal den sicheren Boden verlässt, zog sie sich empor. Schlang erst das eine Bein um den Sitz, dann das andere. Stieß mit dem Kopf gegen die geschwungene Lehne.
Kohlen glühten in ihrem Bauch. Und dann sah sie, in einer jämmerlichen Verrenkung, dass sie ihre Leggings anhatte. Dieser Anblick war eine unglaubliche Erleichterung. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie es geschafft hatte, die Hose anzuziehen. Aber sie hatte es geschafft. Im Schlafzimmer.
Bevor sie das erste Wort herausbrachte, überlegte sie. Sie wollte fragen, wie sie hierhergelangt war. Und wieso dieser Mann noch immer da war. Und wieso sie vergessen hatte, ihn zu erstechen. Das Messer hatte sie doch schon in der Hand gehabt!
Er hatte die Beine
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