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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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beeindruckte; zudem hatten meine Etablissements einen exzellenten Ruf. Was nicht heißen soll, dass nicht auch viele andere Menschen auf der Welt das Gleiche geschafft hätten. Ohne das Kapital meines Schwiegervaters und sein »Händchen« hätte ich nichts zuwege gebracht. Allerdings musste ich zugeben, dass ich mich dabei nicht ganz wohl fühlte, so als hätte ich eine unerlaubte Abkürzung genommen und unlautere Mittel angewendet. Immerhin war ich ein Kind der radikalen Studentenbewegung der sechziger und siebziger Jahre. Wir hatten uns lautstark gegen die raffinierte Logik des Kapitals gewandt, die den zerbrechlichen Idealismus der Nachkriegszeit verdrängt hatte. So hatte ich es zumindest aufgefasst. Es war, als wäre just an einem Wendepunkt unserer Gesellschaft ein heftiges Fieber ausgebrochen. Doch die Welt, in der ich nun lebte, basierte auf einer weit höher entwickelten Form des Kapitalismus. Und ohne es zu merken, war ich ganz und gar Teil dieser Welt geworden. Diese Einsicht kam mir ganz plötzlich, während ich am Steuer meines BMW an einer Ampel auf der Aoyama-dori stand und Schuberts Winterreise hörte. Es war doch gar nicht mein Leben, das ich da lebte. Mit einem Mal war mir, als führte ich das Leben eines anderen an einem Ort, der für diesen anderen geschaffen war. Inwieweit war dieser Mensch, den ich als Ich bezeichnete, wirklich ich selbst? Inwieweit waren die Hände an diesem Lenkrad wirklich meine Hände? Inwieweit entsprach die Szenerie um mich herum der Realität? Je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger wusste ich es.
    Nicht, dass ich unglücklich oder unzufrieden gewesen wäre. Ich liebte meine Frau. Yukiko war ein heiterer, rücksichtsvoller Mensch. Seit der Geburt der Kinder hatte sie etwas zugenommen, weshalb sie eine strenge Diät einhielt und viel Sport trieb. Aber ich fand sie genauso schön wie früher. Ich war gern mit ihr zusammen und schlief auch gern mit ihr. Sie hatte etwas an sich, was mich tröstete und beruhigte. Niemals hätte ich wieder zu dem einsamen Leben zurückkehren wollen, das ich in meinen Zwanzigern geführt hatte. Mein Platz war hier. Hier wurde ich geliebt und beschützt, während ich zugleich meine Frau und meine Kinder liebte und beschützte. Es so weit gebracht zu haben, war eine unerwartete Entdeckung und eine neue Erfahrung für mich.
    Jeden Morgen brachte ich meine älteste Tochter mit dem Wagen in einen privaten Kindergarten. Unterwegs sangen wir zu einer Kassette mit Kinderliedern. Dann fuhr ich nach Hause und spielte mit meiner jüngeren Tochter, bis ich in mein kleines Büro ging, das ich in der Nähe gemietet hatte. Im Sommer verbrachten wir die Wochenenden in unserem Häuschen in Hakone. Wir schauten uns Feuerwerke an, fuhren Boot auf dem See und unternahmen kleine Wanderungen.
    Während der Schwangerschaften meiner Frau hatte ich einige unbedeutende Affären; sie waren nie ernsthaft oder von Dauer. Mit keiner Frau schlief ich öfter als ein oder zwei Mal. Oder höchstens drei Mal. Ehrlich gesagt hatte ich nicht einmal richtig das Gefühl, eine Affäre zu haben. Es ging mir vor allem um den Akt an sich, und ich vermute, meine Partnerinnen suchten das Gleiche. Ich vermied jede Art von engerem Kontakt und wählte die Frauen diesbezüglich sehr sorgfältig aus. Wahrscheinlich versuchte ich herauszufinden, ob ich in ihnen etwas entdecken konnte – oder sie in mir –, wenn ich mit ihnen schlief.
    Nicht lange nach der Geburt meiner zweiten Tochter erhielt ich eine Karte, die meine Eltern mir weitergeleitet hatten. Es war eine Trauerkarte mit dem Namen einer Frau, die offenbar mit sechsunddreißig Jahren gestorben war. Doch der Name sagte mir nichts. Die Karte war in Nagoya abgestempelt, wo ich jedoch niemanden kannte. Aber als ich eine Weile nachdachte, fiel mir ein, dass es sich bei der Verstorbenen um Izumis Cousine handeln musste, die in Kioto gewohnt hatte. Ich hatte ihren Namen völlig vergessen. Sie stammte aus Nagoya.
    Es musste Izumi gewesen sein, die mir die Karte geschickt hatte. Nur sie kam infrage. Anfangs verstand ich überhaupt nicht, warum sie mir diese Nachricht hatte zukommen lassen. Doch nachdem ich die Karte mehrmals gelesen hatte, spürte ich die eisige Härte darin. Izumi hatte nie vergessen, was ich ihr angetan hatte, und mir nie verziehen. Das war es, was sie mir mitteilen wollte. Nur deshalb hatte sie mir die Trauerkarte geschickt. Izumi war nicht glücklich. Andernfalls hätte sie mir niemals eine solche Karte geschickt.

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