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Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Südlich der Grenze, westlich der Sonne

Titel: Südlich der Grenze, westlich der Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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gut wie nie miteinander geredet. Außerdem habe ich seitdem zwanzig Kilo zugenommen. Natürlich hat sie mich nicht erkannt.«
    »Bist du sicher, dass es wirklich Izumi Ohara war? Ohara ist ja kein seltener Name. Vielleicht sah die Frau ihr nur ähnlich?«
    »Das habe ich zuerst auch gedacht und deshalb meine Schwester nach ihr gefragt. Sie hat in der Namensliste der Mieter nachgeschaut. Du weißt schon, so eine Liste, um die Kosten umzulegen, wenn der Flur gestrichen werden muss und so was. Jedenfalls standen die Namen aller Nachbarn auf dieser Liste. Auch der von Izumi Ohara. ›Izumi‹ nicht mit chinesischen Schriftzeichen, sondern in Silbenschrift, und diese Kombination ist ja eher selten.«
    »Sie ist also nicht verheiratet.«
    »Meine Schwester wusste nichts über sie«, sagte mein Klassenkamerad. »Izumi Ohara gilt im ganzen Haus als Rätsel. Es hat noch nie jemand mit ihr gesprochen. Sie grüßt auch nicht zurück, wenn jemand im Hausflur direkt an ihr vorbeigeht und Guten Tag sagt. Und wenn jemand klingelt, macht sie nicht auf. Anscheinend ist sie nicht gerade beliebt im Haus.«
    »Nein, das muss jemand anderes sein.« Ich schüttelte lachend den Kopf. »So ist Izumi nicht. Sie grüßt lieber einmal zu viel als zu wenig.«
    »Na gut, vielleicht war es wirklich jemand anderes. Lassen wir das. So interessant ist dieses Thema auch wieder nicht.«
    »Aber diese Izumi Ohara lebt allein, oder?«
    »Scheint so. Bisher hat wohl nie jemand einen Mann bei ihr ein oder aus gehen sehen. Es weiß auch niemand, wovon sie lebt. Alles sehr geheimnisvoll.«
    »Und was denkst du?«
    »Worüber?«
    »Über Izumi Ohara natürlich oder ihre Doppelgängerin. Du hast sie doch im Aufzug gesehen. Wie wirkte sie auf dich? Sah sie aus, als gehe es ihr gut, oder eher nicht? So was eben.«
    Er überlegte. »Sie sah nicht schlecht aus.«
    »In welcher Hinsicht nicht schlecht?«
    Er schwenkte sein Whiskeyglas, und die Eiswürfel klirrten. »Natürlich ist sie älter geworden. Immerhin ist sie sechsunddreißig. Wie du und ich. Der Stoffwechsel wird langsamer. Die Muskeln erschlaffen. Man bleibt nicht ewig jung.«
    »Natürlich nicht«, sagte ich.
    »Komm, reden wir von was anderem. Vielleicht war sie es ja auch doch nicht.«
    Mit einem Seufzer legte ich beide Hände auf den Tisch und sah ihn an. »Aber ich muss es wissen. Ehrlich gesagt haben Izumi und ich uns kurz vor Ende der Schulzeit auf ziemlich scheußliche Weise getrennt. Ich habe mich unsäglich benommen und ihr sehr wehgetan. Bisher konnte ich nie herausfinden, wie es ihr geht. Ich habe keine Ahnung, wo sie ist und was sie macht. Das liegt mir schon die ganze Zeit auf der Seele. Deshalb möchte ich, dass du mir alles ehrlich sagst, ob es nun erfreulich oder unerfreulich ist. Du weißt genau, dass sie es war, oder?«
    Er nickte. »Na gut, wenn das so ist. Ja, sie war es. Ohne jeden Zweifel. Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen.«
    »Wie sah sie nun wirklich aus?«
    Er schwieg einen Moment. »Eins muss ich dir vorher noch sagen. Ich war ja auch in einer Klasse mit ihr und fand sie ziemlich hübsch. Ein nettes Mädchen, sympathisch. Richtig süß. Keine ausgesprochene Schönheit, aber auf ihre Art sehr anziehend. Sie hatte was, stimmt’s?«
    Ich nickte.
    »Willst du es dir wirklich hören?«
    »Ja, will ich«, sagte ich.
    »Vielleicht ist es schmerzhaft für dich.«
    »Egal, ich will alles wissen.«
    Er nahm einen Schluck Whiskey. »Ich habe dich damals immer beneidet. Eine Freundin wie Izumi hätte ich auch gern gehabt. Jetzt kann ich es wohl gestehen. Ihr Gesicht hatte sich mir genau eingeprägt. Deshalb erkannte ich sie auch nach achtzehn Jahren sofort, als ich sie in dem Aufzug sah. Damit will ich sagen, dass ich keinen Grund habe, schlecht über sie zu reden. Für mich war es auch ein Schock. Ich wollte es zuerst gar nicht glauben. Aber man muss es so sagen: Sie ist nicht mehr attraktiv.«
    Ich presste die Lippen zusammen. »Wie meinst du das, ›nicht mehr attraktiv‹?«
    »Die meisten Kinder im Haus haben Angst vor ihr.«
    »Angst?«, fragte ich. Ich sah ihn verständnislos an. Wahrscheinlich hatte er sich falsch ausgedrückt. »Was heißt das? Wieso haben sie Angst?«
    »Ach, lass doch, am besten, wir reden nicht mehr darüber. Wir hätten gar nicht davon anfangen sollen.«
    »Sagt sie irgendetwas zu den Kindern?«
    »Nein, sie redet mit niemandem. Habe ich doch gesagt.«
    »Das heißt, die Kinder fürchten sich wegen ihres Aussehens vor ihr?«
    »Ja«, sagte

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