Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption

Titel: Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
Vom Netzwerk:
Mutter das Sterben begann. Es war ein Sohn, er hieß Nathan. Drei Tage später war Naomi tot. Es war ein Donnerstag. Daran erinnert sich Shepard, weil er an diesem Donnerstag zweierlei zu erledigen hatte: Er musste zum Zahnarzt, um sich einen unrettbaren Zahn ziehen zu lassen, und er musste ins Krankenhaus, um Naomi ein letztes Mal zu sehen. Er hatte sich erst zu drücken versucht, mit einem Blick wie ein geschlagener Hund, aber Barbara ließ ihn nicht.
    »Verdammt, Peter, das sind unsere Freunde! Das ist das Mindeste, was wir ihnen schuldig sind!«
    Shepard kapitulierte mit einem stummen Nicken. In der Eingangshalle der Klinik kauften sie einen Rosenstrauß und gingen wortlos die Flure der Krebsstation entlang, aber je näher sie Naomis Zimmer kamen, desto fester klammerte sich Barbaras Hand an die seine. Der Geruch nach Verwesung und Erbrochenem, der ihnen entgegenschlug, als sie die Tür öffneten, war wie eine Ohrfeige.
    Von Naomi Stern, seiner bezaubernden Freundin, deren wohlgeformter Leib ihn einst ins Schwärmen gebracht hatte, war nichts übrig als Haut und Knochen und zwei fieberglänzende Augen. Wo ihre Bettdecke die Brüste hätte erahnen lassen müssen, war alles flach.
    Zum leisen Piepen des EKG s trat Shepard in den Raum. Mark saß auf dem Bett und hielt Naomis Hand. Ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten Mark an, während sie mit kurzen, keuchenden Zügen atmete. Einen Moment lang fragte sich Shepard, wie es ihm erginge, säße er anstelle seines Freundes auf diesem schrecklichen Bett und sähe Barbara sterben.
    Sie blieben, bis die Aufzeichnungen des EKG s in Aufruhr gerieten und Naomi bei Einbruch der Dunkelheit keine Luft mehr bekam und sich in Marks Hand verkrallte. Er streichelte immerzu ihre hohlen Wangen, weinend. Naomi traten die Augen aus den Höhlen, und Shepard nahm Barbara in die Arme, während Mark flehte: »Stirb, bitte stirb. Hör auf zu kämpfen, Liebes, und stirb.«
    Naomi bäumte sich ein letztes Mal auf, ein letzter Krampf lief durch ihren Körper, sie sah ihn ein letztes Mal voller Entsetzen und Wehmut an. Marks Gesicht war zerknittert wie Papier. Dann hob er den Kopf und sagte: »Mein Gott, sie ist tot.«
    Shepard nimmt ein wenig den Fuß vom Gas. Die Abzweigung nach Pahrump. Die Straße krümmt sich nach Süden in Richtung Death Valley. Er fährt vorbei. Das Thermometer zeigt neununddreißig Grad. Allmählich wird es kühler. Wenn die Sonne untergegangen ist, wird sich die Hitze auflösen wie ein Nebelschleier, wird der Kälte der Nacht und der heruntergekühlten Luft auf den heißen Gesichtern seiner Kinder weichen. Es vergeht keine Sekunde, in der Shepard nicht daran denkt. Sie werden sich erkälten, und wenn die Sonne wieder über den Horizont steigt und die Klimaanlage dann irgendwann den Geist aufgibt, werden sie nichts mehr zu trinken haben. Monica mit ihrem Asthma und ihrem ständig verstopften Näschen ist die Anfälligere der beiden. Shepard packt das Lenkrad fester und tritt aufs Gas. Der Geländewagen donnert über den Asphalt dahin und frisst die Meilen, die ihn von Barbara trennen. Von ihr entfernen. Er denkt an Naomi, die sich an Marks Hand klammert. An die Zwillinge, die in ihrer kleinen kühlen Oase inmitten der gnadenlosen Wüstenhitze an ihren Fläschchen nuckeln. Er ist im Begriff, auf die andere Seite zu wechseln. Jenseits von Leiden und Angst.
    »Jetzt bin ich an der Reihe, Mark. Jetzt trifft es mich«, murmelt er, fast ohne die Lippen zu bewegen.
15
    Am Rand der Straße, die ins Herz der Deadlands führt, sitzt der falsche Sheriff hinter dem Steuer des Wagens und reibt sich im ersten Morgenlicht die Augen. Er wirft einen Blick auf seine mächtige rote Swatch, die Töne von sich gibt, wenn man auf die Knöpfe drückt, und sogar die Wochentage anzeigt. Sein bester Freund hat sie ihm geschenkt, vor vielen Jahren. Sie funktioniert noch ganz gut, nur die Musik geht nicht mehr. Das Glas ist ein bisschen zerkratzt, das spürt er, wenn er mit dem Finger darüber fährt. Der kleine Zeiger steht auf der Acht. Der große auf der Sechs. Er lächelt. Seine Oma hat ihm beigebracht, die Uhr zu lesen. Acht Gürtelhiebe für den kleinen Zeiger, sechs für den großen. Sie hat ihm alles auf diese Weise beigebracht, das Zusammenzählen und Malnehmen. Wenn er zu oft etwas Falsches sagte oder aus Versehen mal bockig war, hat sie ihn in diesen endlosen Winternächten, in denen es draußen so kalt und drinnen so heiß war, an einen Heizkörper gefesselt.
    Er trinkt einen

Weitere Kostenlose Bücher