Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
Schluck Mineralwasser. In dem Polizeifahrzeug riecht es nach Kautabak und Pfefferminzbonbons. Er fährt mit der flachen Hand über das spröde Leder des Beifahrersitzes, das Plastik des Armaturenbretts, das Gummi des Lenkrads. Der Streifenwagen des alten Crane. Er hat ihn umgebracht. Spatenhieb in den Nacken. Hat so fest zugeschlagen, dass der Alte nichts gespürt hat. Dann hat er die Leiche in eine Plane gewickelt und zwanzig Meilen außerhalb von Las Vegas in der Wüste vergraben. Der Boden war recht hart, aber er hat sorgfältig gearbeitet – nicht, dass ihn womöglich die Kojoten wieder ausgraben. Als es auf den Morgen zuging, machte er sich wieder auf den Weg.
Er blickt noch einmal auf die Uhr. Zeit ist genug. Er wühlt in einer Plastiktüte voller Süßigkeiten. Reißt die Verpackung eines Schokoriegels auf, den er mit Genuss verspeist. Dann wirft er das Papier über die Schulter und inspiziert das Handschuhfach. Er nimmt den Kautabak heraus. Bricht ein Stück ab und beschnuppert es, bevor er es in den Mund steckt, zerkaut und wieder ausspuckt. Er wischt sich die Lippen ab. Nimmt noch ein Stück und verzieht das Gesicht. Was für ein widerlicher Geschmack – aber wenn der Bulle diesen Tabak gekaut hat, tut er es ebenfalls. In der Tiefe des Handschuhfachs findet er ein Fläschchen Old Spice. Er besprüht sein Hemd ein paar Mal damit. Dann reckt er sich ausgiebig und lehnt den Kopf an die Nackenstütze. Seine Brust hebt sich, die Muskeln entspannen. Schlagartig schläft er ein.
Als er die Augen abermals öffnet, zeigt der kleine Zeiger auf die Zehn und der große auf die Zwei. Er hat einen scheußlichen Geschmack nach Kautabak und Schokolade im Mund, aber er fühlt sich besser. Er ist bereit. Er wirft einen Blick in den Rückspiegel.
Von hinten nähert sich ein sandfarbener Lexus. Die Fahrerin raucht. Sie hält sich ein Mobiltelefon ans Ohr. Auf dem Rücksitz zwei kleine Mädchen, die sich einen Spaß daraus machen, ihre Füße zu fangen. Der Lexus braust an ihm vorbei, entfernt sich, wird kleiner. Der falsche Sheriff lässt seinen Wagen an und gibt Gas. Eine Staubwolke steigt auf, und unter der Motorhaube schnurren die acht Zylinder. Der Lexus vor ihm wird wieder größer. Er summt einen Vers vor sich hin, wie man ihn kleinen Kindern zum Einschlafen vorsingt:
Row, row, row your boat gently down the streamMerrily, merrily, merrily, merrilyLife is but a dream.
Mit den Fingern trommelt er dazu auf dem Lenkrad den Takt. Lächelnd betrachtet er sich im Rückspiegel. Er sieht glücklich aus.
Er sagt: »Erinnerst du dich, Peter?«
16
Auf dem Rücksitz seines Geländewagens schreckt Shepard jäh aus dem Schlaf. Am Horizont über der unendlichen Weite Nevadas steht ein fahler Streif. Seit zwei Tagen durchkämmt er die Wüste. Seit zwei Tagen drehen die Suchtrupps der Polizei von Clark County und San Bernardino zwischen Amargosa und Death Valley jeden Stein um. Eine mühselige Arbeit – elf Helikopter und über zweihundert Ranger sind im Einsatz. Ohne Erfolg.
Shepard hat die erste Nacht in einem schmutzigen Motel am Rand von Tokop verbracht. Neun schlaflose Stunden, in denen er Unmengen Kaffee getrunken und die Landkarten der Umgebung praktisch auswendig gelernt hat.
Frühmorgens klebte er dann mit einem Ohr an dem Funkscanner, den er bei einem Großhändler in Las Vegas erstanden hatte, und hörte den Polizeifunk ab. Das Suchgebiet, erfuhr er, werde jetzt ausgeweitet. Anfangs hatte Shepard, wie auch die Polizei, die Stelle zu finden versucht, wo der falsche Sheriff den Lexus abgefangen haben konnte. Er hatte jeden Abschnitt untersucht, an dem man unentdeckt am Straßenrand parken konnte, doch der nächtliche Wind hatte alle Spuren im Sand verweht. Endlose Stunden lang versuchte er sich zu erinnern, welche Geräusche er am Telefon wahrgenommen hatte, während der Lexus auf seinem Weg durch die Deadlands war. Sein Geist spielte sämtliche Hypothesen durch, die ihn dazu trieben, wie ein Verrückter in alle Richtungen zu fahren. Wenn der Schmerz unerträglich wurde, hielt er an der Kante eines Abgrunds, sprang aus dem Wagen und schrie nach Barbara und seinen Mädchen, bis ihm die Stimme versagte und nur noch ein heiseres Krächzen kam. Jede Stunde, die verging, jede Minute, in der die Sonne höher stieg und die Hitze zunahm, ja, jede Sekunde trieb ihn dem Wahnsinn näher. Und dann, als das Licht wieder zu schwinden begann, erkannte er mit einem Schlag seinen Fehler.
17
Shepard denkt zurück an den letzten Tag
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