Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
ihm diverse Nachrichten hinterlassen; er soll sich dringend melden. Shepard zerknüllt sämtliche Zettel und hört den Anrufbeantworter ab. Alle haben angerufen, und alle beklagen, dass er auf dem Handy nicht erreichbar sei. In Grants Stimme schwingt Trauer mit, er ringt nach Worten, findet sie nicht. Shepard löscht sämtliche Nachrichten. Er zündet sich eine Zigarette an und versucht, sich auf die geplante Fusion zweier Pharmakonzerne an der Westküste, Health Chemical und Barston Ingeneer, zu konzentrieren, aber die Zahlen tanzen vor seinen Augen. Wie die Gesichter von Barbara und den beiden Mädchen. Er trinkt einen Schluck Whisky und wendet sich dem Poststapel zu, der seit Tagen auf seinem Schreibtisch wächst. Zwischen allerlei vom Sekretariat bereits bearbeiteten, mehr oder minder vertraulichen Schreiben entdeckt er einen an ihn persönlich adressierten, zu hoch frankierten braunen Umschlag. Name und Adresse in Großbuchstaben. Schräg in der linken oberen Ecke steht, ebenfalls in Großbuchstaben, doch etwas kleiner: »Dringendst. Bitte ggf. nachsenden.« Auf der Rückseite kein Absender. Nach dem Poststempel zu urteilen, wurde der Brief zu Anfang der Woche in einem gottverlassenen Nest in Mississippi aufgegeben. Er reißt den Umschlag auf. Darin findet er ein Foto, das auf den ersten Blick aussieht wie ein vergrößertes Klassenfoto. Aber die im Viereck aufgestellten Jugendlichen tragen alle identische gelbe Overalls und haben rasierte Schädel und einen missmutigen Blick. Mit rotem Filzstift sind sechs Gesichter eingekreist, darunter ein Koloss von etwa fünfzehn Jahren. Shepard betrachtet das Foto, und allmählich tauchen vergessene Geräusche und Gerüche aus seiner Erinnerung auf. Er meint sich selbst zu erkennen – auch sein Gesicht ist mit Rot markiert. Der Junge, der dem Fotografen den Mittelfinger zeigt. Neben ihm ein langer Lulatsch mit Brille. Shepard dreht das Foto um. Auf der Rückseite steht: »Jugendstrafanstalt Redemption, Mississippi, Juli 1986.«
Er lehnt den Kopf an die Nackenstütze des Sessels und schließt die Augen. Immer mehr Erinnerungen kehren zurück. Sein Atem verlangsamt sich. Ein Geruch nach Schlamm und verrottendem Laub steigt ihm in die Nase.
27
Zuerst ein Vorname. Wendy. Ein paar Buchstaben und die Musik, die sie erzeugen, wenn sie aneinandergefügt sind. Ein bildhübsches Sommersprossengesicht, eine abgeschnittene Jeans, eine Jungmädchenfigur im ärmellosen T-Shirt. Wendys Gestalt wird deutlicher. Auch die Landschaft. Weiden und wilde Feigen werfen den Schatten ihrer Kronen auf das Ufer eines sonnenglitzernden Flusses. Es riecht nach Blumen und Hitze. Insektengebrumm erfüllt die reglose Luft. Es ist heiß.
An Wendys Seite ist er selbst, Peter. Gestern ist er vierzehn geworden. Mit einem Päckchen Kuchen und einem Rest lauwarmer Limonade haben sie seinen Geburtstag gefeiert. Wendy und er sind vor drei Wochen aus Good Hope, dem Heim für straffällige Jugendliche im Norden des Staates Mississippi, ausgebrochen. Weil der Oberaufseher Webster ein Auge auf Wendy geworfen hatte.
Shepard denkt an den Tag, an dem Wendy ins Heim kam: Waise wie er, in immer neuen Pflegefamilien untergebracht, die in ihr nur eine zusätzliche Esserin sahen, war sie immer wieder ausgerissen und schließlich in die Kriminalität abgerutscht. Diesmal war sie an der Grenze zu Louisiana aufgegriffen worden, wo sie mit einem Cutter als Waffe die Kasse eines Fast-Food-Lokals hatte plündern wollen. Empört erzählte sie Peter später, wie der Ladenbesitzer bei ihrem Anblick in schallendes Gelächter ausgebrochen war, einen Baseballschläger hinter der Theke hervorgeholt und gleichzeitig nach dem Telefon gegriffen hatte, um die Polizei zu verständigen. Zwei Tage lang saß sie in einer Zelle des Bezirksgefängnisses, bis ein Richter mit schnapsroter Nase sie in einem Schnellverfahren nach Good Hope schickte. Peter sah sie zum ersten Mal, als sie aus dem Auto des Sheriffs ausstieg und sich eine Haarsträhne aus der Stirn blies.
An das Heim erinnert sich Peter nur noch verschwommen. Deutlich im Gedächtnis sind ihm nur die drei Wochen am Ufer des Mississippi. Und natürlich die Nacht ihres Ausbruchs, nachdem er den Oberaufseher Webster niedergeschlagen hatte. Dabei war es, von diesem brutalen Kerl abgesehen, in Good Hope eigentlich gar nicht so schlimm. Kein Steineklopfen, keine Feldarbeit, kein Baumwollpflücken in sengender Sonne. Nur militärische Disziplin und gelegentlich Schläge, die manchmal
Weitere Kostenlose Bücher