Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
Am Ende jeder Nachricht sagen sie: »Wir küssen euch.« Wendy zuckt die Achseln. Schon lang nimmt sie dieses »euch«, in dem sie sowieso nie eingeschlossen war, nicht mehr ernst. Sie löscht jede Nachricht, die sie gehört hat, und nebenbei auch die Flut der Werbeanrufe vom Band.
Der Stimme zufolge sind es noch elf Nachrichten. Der nächste Anruf kommt, nach der Vorwahl zu schließen, aus Nevada. Wendy verspürt ein unangenehmes Brennen im Nacken. Sie kennt niemanden in Nevada. Es atmet ins Telefon. Jemand räuspert sich. Ein Windstoß fährt in die Telefonzelle. Eine leise Stimme murmelt etwas. Wendy horcht angestrengt. »Bist du sicher, dass es die richtige Nummer ist?«, glaubt sie zu verstehen.
Eine andere Stimme, viel lauter: »Ja, klar.«
»Und woher weißt du das?«
»Ich weiß es eben.«
»Okay.«
Die laute Stimme fährt munter fort: »Wendy Moore? Hey, Wendy Moore, bist du da, oder bist du nicht da? Na komm, wenn du da bist, geh ran, heb ab, und wenn du nicht da bist, heb trotzdem ab!«
Eine Pause. Dann die laute Stimme: »Ah, Scheiße, ich glaube, sie ist nicht da.«
Die erste Stimme, noch leiser: »Falls du zufällig die falsche Nummer gewählt …«
»Ganz sicher nicht, Mann!«
Die laute Stimme dröhnt wieder ins Telefon: »Na gut, auch recht, Wendy Dings – wie? Sullivan? So heißt du jetzt? Okay, gut, ich ruf dich bald wieder an. Sag, weißt du eigentlich, wer am Apparat ist, Wendy Sullivan? Das errätst du nie. Ich würd’s dir ja sagen, aber das verdirbt die Überraschung, oder? Na gut, ich ruf also bald wieder an.«
Eine kurze Pause.
»Also bist du jetzt da oder nicht?«
»Du siehst doch, dass sie nicht da ist.«
»Ja. Scheiße, ja, das ist leider schrecklich wahr.«
Ein Klicken, die Kommunikation bricht ab. Wendy spürt, wie sich in ihrer Magengrube ein Knoten bildet. Sie kennt die laute Stimme. Eine tief vergrabene Erinnerung dämmert. Sie lässt sich die nächste Nachricht vorspielen. Vom selben Tag. Dieselbe Vorwahl, aber eine andere Nummer. Sie verzieht das Gesicht und hält den Hörer weit vom Ohr ab.
»Wendy Sullivan? Iiiiiich bin’s! Errätst du nicht, wer? Na iiiiiich doch!«
Es atmet.
»Äh, bist du jetzt da, oder bist du noch immer nicht da?«
Finger trommeln an die Scheibe der Telefonkabine. Die laute Stimme sagt: »Was noch?«
Die leise Stimme antwortet: »Sie ist nicht da, sag ich dir. Vielleicht ist sie das ja gar nicht, diese Sullivan.«
»Du spinnst, natürlich ist sie Sullivan. Sie hat sogar den Text auf den Anrufbeantworter gesprochen. Sie sagt: ›Guten Tag, Sie haben die Nummer von Truman und Wendy Sullivan gewählt.‹ Was sagst du?«
»Mag ja sein, dass sie Sullivan heißt, aber sie ist nicht deine Sullivan.«
»Doch. Ich erkenne die Stimme. Das ist meine Wendy Moore, und jetzt hat sie irgendeinen Kerl mit Aufrissnamen geheiratet und ist Miiiissis Wendy Sullivan geworden.«
»Hundert Prozent?«
»Mindestens tausend Prozent, Mann!«
»Na ja, wer weiß, vielleicht ist sie ja tot.«
»Tot?«
»Yeah. Die ganze Familie, deine Wendy, ihre Gören und ihr Autoverkäufer – vielleicht hatten sie alle einen unheilbaren Krebs, oder der Stromschlag hat sie getroffen, als sie eine Glühbirne auswechseln wollten, oder sie wurden von einem Herumtreiber massakriert und liegen jetzt im eigenen Blut in ihren Betten und verwesen.«
»Sag mal, spinnst du?«
Die laute Stimme dröhnt wieder in den Hörer.
»Hey, Wendy, du bist doch nicht tot, und der Kerl, der dir den Hals umdreht, ist noch nicht geboren, oder? Wendy, hörst du mich? Bist du da oder nicht?«
Es atmet. Finger trommeln an die Scheibe.
»Also ohne Scheiß jetzt, Wendy, wenn du nicht tot bist, dann antworte endlich. Das ist echt nicht witzig. Es ist sogar ziemlich uncool, den Leuten vorzumachen, dass deine aufgeschwemmte Leiche vor sich hin west, während ich mit dieser verfluchten Maschine rede.«
»Also bist du dir doch nicht sicher?«
»Doch, Scheiße, natürlich bin ich mir sicher.«
»Okay, wie du meinst.«
Wendy durchfährt es heiß. Mit einem Mal begreift sie, dass die beiden Stimmen ein und derselben Person gehören. Fieberhaft durchforstet sie ihre Erinnerungen.
»Na gut, okay, Wendyschatz, du hast gewonnen. Wir sind auf dem Weg durch Nevada Richtung Las Vegas. Losgefahren sind wir im Scheiß-Idaho, und dort sind wir gemütlich durch die Wüste getrampt. Willst du wissen, warum? Ja? Na gut, okay, du hast gewonnen, ich sag’s dir: Wir haben Peter Shepard aufgespürt. Na? An den
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