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Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption

Titel: Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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Uhr gelesen. Sie wischt sich eine Träne ab. Jetzt erinnert sie sich an alles.
25
    Es regnet. Seltsam ist der Regen in San Francisco. Lauwarm und so zart, dass man den Eindruck hat, die Tropfen schwebten in der Luft und schafften es gar nicht bis zum Boden. Nebel kriecht über die Wege des Friedhofs Holy Cross. Barbara und die Zwillinge sind seit zwei Wochen tot. Sie fehlen ihm entsetzlich. Ihre Gerüche verwehen allmählich – er erinnert sich schon fast nicht mehr. Auch ihre Gesichter verblassen, langsam, aber unaufhaltsam. Er ist sich sogar ihrer Augenfarbe nicht mehr ganz sicher. Das ist das Schlimmste. Das Sterben der Gesichter.
    Wie er es Barbara versprochen hat, ließ er sie alle drei einäschern, damit auch ganz sicher ist, dass sie wirklich tot sind. Shepard spürt von Neuem den entsetzlichen Schmerz, der ihn packte, als die beiden kleinen Särge hinter der Panzerglasscheibe verschwanden. Es folgte ein unheilvolles Klacken, dann ertönte, gedämpft, das Requiem von Dings, die Wasserstoffbrenner flammten auf, und er stellte sich vor, wie die Särge Feuer fingen, um gleich darauf von einem brennenden Mahlstrom verschlungen zu werden. Auf das Requiem folgte Vivaldis Winter , und in der sekundenkurzen Pause zwischen den beiden Stücken meinte er, die Mädchen in den Flammen schreien zu hören. Dann war der große Sarg an der Reihe, und Shepard, allein im Saal des Krematoriums, zerfloss in Tränen.
    Als er die Asche abholte, fragte er sich, wie so viel Leben, Fleisch, Erinnerungen in derart kleine Urnen passen kann. Erschöpft ließ er sich auf die Rückbank der Limousine fallen, und sein Fahrer fragte ihn, wohin er gebracht zu werden wünsche.
    Die Urnen im Arm, antwortete Shepard: »Palo Alto, zum Flughafen.«
    Er drückte die Nase an die Scheibe und versuchte, Dunstkreise darauf zu hauchen. Dann öffnete er Barbaras Urne und schnupperte an ihrem Inhalt. Es roch nach nichts. Er schüttete die Asche der Zwillinge dazu und tauchte die Finger hinein. Es war weich wie Reispulver.
    Die folgenden Tage verbrachte er damit, über den USA hin und her zu fliegen und die Orte aufzusuchen, an denen Barbara und er glücklich gewesen waren. Mit New York fing er an, den Alleen des Central Park, der Bank in der Nähe des Zoos, auf der sie sich zum ersten Mal geküsst hatten, dem Restaurant in Little Italy, wo sie die besten Gnocchi der Stadt gegessen hatten, und diesem Hotel in Soho, in dem sich Barbara in den Handrücken gebissen hatte, um beim Orgasmus nicht zu viel Lärm zu machen. Überall eine Prise Asche. Dann hob der Jet wieder ab und brachte Shepard an die Küste von Maine. Er suchte fast alle Hotels auf, in denen sie Urlaub gemacht, fast alle Flussufer, an denen sie gesessen und die Landschaft bewundert, fast alle Strände, an denen Meredith und Monica ihre ersten Sandkuchen gebaut hatten. Er war auch an den Orten, an denen sie traurig gewesen waren, am Fuß des riesigen General Sherman Tree im Sequoia-Nationalpark, wo sie den Eindruck gehabt hatten, sie liebten einander nicht mehr, und in diesem von Sandstürmen umtosten Motel irgendwo im tiefsten Utah, wo sie gefürchtet hatten, einander zu verlieren.
    Shepards Trauerreise dauerte zehn Tage und führte ihn bis zum Grand Canyon, wo er die letzte Asche verstreute. Es war ein sehr schöner und heißer Tag, und er blickte der zartgrauen Wolke nach, die einen Moment in der Luft schwebte, ehe sie über dem Abgrund verwehte. Und dann, als er fertig war, als das letzte Stäubchen seiner Familie vom Colorado-Fluss aufgenommen war, wusste er, dass er am Ende des Wegs angelangt war.
    Shepard wischt sich den Regen vom Gesicht. Er kauert nieder und fährt mit der flachen Hand über die Marmorstele, die er auf einem Rasenfleck im Holy-Cross-Friedhof hat errichten lassen. Er denkt an seine Familie, an ihre Asche an den Reifen der im Stau stehenden Autos von Manhattan oder im Magen der Fische des Colorado. Er hat gehofft, dass es ihm danach besser ginge, doch jetzt, wie er dort über einem Grab kauert, das für immer leer bleiben wird, erkennt er, wie entsetzlich ihm die drei Körper fehlen. Er steht auf und geht. Die Stele verschwindet im Dunst.

IV
    Wendy Moore
26
    Es ist schon lange dunkel, als Shepard in seiner Kanzlei in Palo Alto sein Büro im zweiundzwanzigsten Stockwerk betritt. Shepard, Grant & Willcox , die größte Anwaltskanzlei der Westküste. Um diese Stunde sind die Flure leer. Er sperrt die Tür hinter sich zu und schenkt sich einen Whisky ein. Seine Partner haben

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