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Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption

Titel: Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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verdüstert sich zusehends. Als er fertig ist, reicht er den Brief weiter. Er geht von einer Hand zur nächsten. Wendys Kinn zittert, als sie ausgelesen hat und das Blatt an Howard weitergibt. Der Präsident der Verlorenen Jungs liest laut die Zeilen vor, die Alabamas Mutter auf einem Blatt mit dem Briefkopf eines Hotels in New Orleans geschrieben hat.
    Alabama. Ich habe deinen langen sinnlosen Brief erhalten, in dem du die Dreistigkeit besitzt, dich wieder einmal darüber zu beklagen, was dir Papa angeblich letztes Weihnachten angetan hat. Ich habe mit ihm darüber gesprochen. Er meint, du solltest allmählich begreifen, dass es für einen Vater mehrerlei Möglichkeiten gibt, eine Tochter zu lieben, und dass Zärtlichkeit auf einen Teenager, der womöglich etwas zu naseweis ist, missverständlich wirken kann. Du sagst mir, dein Drama sei es gewesen, dass du zu hübsch bist. Das ist von bodenloser Arroganz, die umso gravierender ist, als nichts von alledem geschehen wäre, wenn nicht du selbst deinen Papa verführt hättest, indem du ständig in Unterwäsche vor ihm herumläufst. Ich hoffe, du nutzt deine Zeit in der Anstalt, um darüber nachzudenken. Papa ist bereit, dir zu verzeihen, vorausgesetzt, du hörst auf, diesen Unsinn zu verbreiten. Wir küssen dich, mein Schatz, und hoffen auf baldiges Wiedersehen.
    Alabama nickt. »Siehst du, Howard«, sagt sie. »Ich heule gar nicht mehr.
    »Sehr gut, Kleine.«
    »Ach, Mist …«
    Alabama errötet und wischt sich mit dem Zeigefinger die Augen. Dann schnieft sie kurz auf und lächelt wieder. Sie sieht glücklich aus. Howard legt den Brief auf die Glut. Das Papier knistert und geht in Flammen auf.
    »Ich hab auch ein Geschenk«, sagt Howard.
    Alabama blickt auf und sieht, wie er Ezzie ein Zeichen gibt. Der Riese tritt näher. Ohne sie zuvor zu beschnüffeln, hebt er sie hoch und sagt: »Sie ist auch mein Kumpel!«
    »Jetzt bist du die Heulsuse unserer Bande.«
    »Danke, Howard.«
    Ezzie, der auf seinen Platz zurückkehrt, kippt die Colaflasche um, und Howard stöhnt entnervt. Wendy nimmt den Riesen in Schutz. Peter zündet einen Holunderstängel an und blickt in die untergehende Sonne. Niemand bemerkt die traurige Miene, mit der Marcellus die Felder hinter dem Zaun betrachtet, als ahnte er allein, dass die Verlorenen Jungs ihre letzten glücklichen Augenblicke erleben.
80
    Shepard steht in seinem Hotelzimmer am Fenster und starrt durch die Gardinen auf die Hauptstraße von Gipsy hinaus. Die Nacht bricht herein. Die Straßenlaternen leuchten auf und werden nach und nach heller. Die Leute treten vor ihre Türen, um den von der Jagd zurückkehrenden Streifenwagen nachzuschauen. Der Sheriff hat seine Kollegen aus den umliegenden Countys zu Hilfe gerufen, und die haben ihre Stiefel poliert, ihre Waffen gefettet und sich für die entgangene Beute an dem kleinen Wolf schadlos gehalten. Ein Gewehrschuss, eingebettet in mehrere M16-Salven, und zu guter Letzt noch ein Pistolenschuss aus allernächster Nähe, dann war von dem Wolfswelpen praktisch nichts mehr übrig.
    Die Gaffer applaudieren, als der Transporter mit Ezzies Leiche vorbeifährt. Manche spucken aus. Andere heben Steine auf und werfen sie nach der Karosserie. Nach und nach wird in Gipsy wieder Ordnung einkehren. Die gelben Absperrbänder werden von den Plätzen und aus den Gärten verschwinden, die Leute werden sich neue Katzen und Hunde anschaffen. Schon jetzt haben die Bars wieder geöffnet. Und das Kino.
    Die Tür knarzt leise, Schritte tappen über das Parkett. Ein Schwall Parfum weht der eintretenden Gestalt voraus. Eine Hand greift nach der Automatikpistole, die Shepard auf den Tisch gelegt hat. Er zuckt nicht einmal, als er das Metall im Nacken spürt. Wendy hat die Waffe entsichert. Peter atmet tief ihr Parfum ein.
    »Na los, Wendy, mach schon. Ich hab’s genauso gemacht. Ich hab ihm den Lauf in den Nacken gehalten und gewartet, bis er so weit war, dann hab ich die Augen geschlossen und abgedrückt.«
    Wendy schluchzt auf. Der Druck im Nacken lässt nach, weicht. Wendy wischt sich mit dem Handrücken die Tränen ab.
    Peter sieht den Leuten zu, die draußen den letzten Polizeiwagen nachwinken. Er dreht sich um. Wendys Gesicht sieht im Licht der Straßenlaternen wie gebleicht aus. Sie hat die Waffe auf den Tisch zurückgelegt. Er streicht über die Narbe auf ihrer Wange, spürt behutsam den kaum merklichen Erhebungen mit den Fingerspitzen nach. Er küsst die Narbe. Er streicht mit den Lippen über ihre Haut.

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