Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption

Titel: Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
Vom Netzwerk:
Zeit zu Zeit zündet Wendy eine Zigarette an und reicht sie Peter, ehe sie sich selbst eine ansteckt. Sie rauchen schweigend. Je näher sie Forsyth kommen, desto stärker wird der Regen. Sie haben noch ein paar Kreuzungen vor sich, noch ein paar Tankstellen, noch ein paar Einfamilienhäuser in armseligen, verwilderten Gärtchen.
    Der Wagen hält auf dem Parkplatz des Hospizes von Forsyth, eines Gebäudekomplexes aus schmutzigem, rissig gewordenem Beton. Es sind ein Würfel und zwei Quader: Der Würfel beherbergt den Empfang, in den auf beiden Seiten anschließenden Quadern sind rechts die mittellosen Patienten untergebracht, die im Sterben liegen, und links die mittellosen Patienten, die auf Verlegung in den rechten Quader warten. Der Bungalow der Sterbenden ist ein elender Kasten, dessen schmutzige Fensterscheiben mit Gardinen verhängt sind. Vor den Fenstern überwuchert Gestrüpp die einstigen Rasenflächen, deren betonierte Einfassungen unter dem Druck der Wurzeln geborsten sind. Wendy starrt in den strömenden Regen, der auf die Windschutzscheibe prasselt.
    »Ich kann das nicht, Pete, ich bin halb tot vor Angst.«
    Shepard streicht ihr über die langen blonden Haare.
    »Du warst ihm mal wichtig, Wendy. Du warst uns allen wichtig.«
    Er öffnet die Tür, steigt aber nicht aus. Schwingt nur die Beine aus dem Wagen. Regentropfen zerplatzen auf seiner Jeans.
    »Ich kann dich verstehen, wenn du das nicht schaffst. Collie wird es auch verstehen.«
    »Du findest mich erbärmlich, stimmt’s?«
    »Bring mir jemanden, der so über dich denkt, und ich polier ihm die Fresse.«
    Er wirft die Wagentür zu, steuert auf den Haupteingang zu, stößt die Tür auf. Ein überwältigender Geruch nach Ammoniak schlägt ihm entgegen. Er erspäht eine erschöpft wirkende Krankenschwester und fragt sie nach der Zimmernummer von Collie Partridge.
    Sie konsultiert das Patientenregister.
    »Sind Sie ein Angehöriger?«
    »Er ist mein Bruder.«
    Die Schwester blickt auf, mustert ihn, dann zuckt sie die Achseln. »Er liegt im Sterben«, sagt sie.
    »Ich weiß. Ich bin hier, um mich zu verabschieden. Ist er bei Bewusstsein?«
    »Zeitweise. Aber wenn er aufwacht, fantasiert er oft.«
    »Was sagt er?«
    »Er spricht von Verliesen und offenen Zellen. Manchmal wird er aufgeregt und schreit nach ›verlorenen Jungs‹. Sie hätten ihn dort unten vergessen, sagt er.«
    »Wo denn?«
    »Remission oder so, ich hab’s nicht genau verstanden.«
    »Redemption?«
    »Könnte sein, ja. Er sagt, man muss dem letzten Morgenstern folgen, und dahinter ist dann gleich die Hölle. Sagt Ihnen das was?«
    »Was – die Hölle?«
    Die Schwester versucht zu lächeln, aber so richtig gelingt ihr das schon lange nicht mehr.
    »Zimmer 412. Sie haben eine Stunde. Wenn er stirbt, während Sie da sind, geben Sie mir bitte Bescheid, bevor Sie gehen. Das sage ich deshalb, weil die Angehörigen oft glauben, der Patient sei einfach wieder eingeschlafen, und dabei ist er tot.«
    Shepard öffnet die Brandschutztür, die den Zugang zum rechten Quader abtrennt. Seine Sohlen quietschen auf dem abgetretenen Linoleum. Im staubflirrenden Neonlicht kreisen Fliegen, und hinter den geschlossenen Zimmertüren piepen Apparate, fauchen Beatmungsmaschinen, röcheln Sterbende.
    Shepard steht vor der Tür zu Zimmer 412. Einen Moment lang hofft er, Collie in einem Sessel vor dem Fenster mit einer Zeitschrift in der Hand vorzufinden – vielleicht könnten sie’s sogar schaffen, die Wachsamkeit der Schwester zu überlisten, und sich einen Spaziergang gönnen. In Redemption pflegte Collie, wenn es bei der Feldarbeit zu regnen anfing, den Kopf in den Nacken zu legen und die Hände auszubreiten; dann öffnete er weit den Mund, wie um das ganze Himmelswasser zu trinken. Shepard späht durch die Glasscheibe in der Tür. Collie liegt seitlich eingerollt auf seinem Sterbebett, das Gesicht dem Fenster zugewandt. Er blickt in den Regen hinaus.
93
    Im Zimmer riecht es nach Formalin. Peter setzt sich auf den Plastikstuhl, den einzigen im Raum; sich auf die Bettkante zu setzen, wagt er nicht. Sein Blick verschleiert sich.
    »Collie?«, sagt er leise.
    Collie atmet kurz und stoßweise. Peter legt eine Hand auf die knochige Schulter seines alten Kumpels, der bei der Berührung zusammenzuckt, und er erkennt, dass Collie mit offenen Augen geschlafen hat. Er hilft ihm, sich auf den Rücken zu drehen. Sekundenlang wird Collie von einem hohlen Husten geschüttelt, und er bäumt sich auf. Dann sinkt sein Kopf

Weitere Kostenlose Bücher