Sühnetag - Patterson, J: Sühnetag - Worst Case
Sie sich. Der Fehler mit den Schuhen tut uns leid. Wir waren unaufmerksam und entschuldigen uns. Wir sind Polizisten und suchen nach einem entführten Mädchen. Uns wurde gesagt, es wäre hier. Bitte helfen Sie uns. Das Leben dieses jungen Mädchens steht auf dem Spiel.«
» Ich verstehe. Ich bin Yassin Ali, der Imam hier. Ich bin wütend geworden. Natürlich werde ich Ihnen helfen.«
Emily nahm ihm die Handschellen wieder ab, woraufhin er uns zurück in die Eingangshalle führte.
» Sie sagen, ein Mädchen soll hier festgehalten werden?« Er blickte uns ungläubig an. » Aber das ist unmöglich. Seit dem Morgengebet war niemand mehr hier. Wie heißt das Mädchen? Ist sie ein Mitglied der Gemeinde?«
Ich zeigte ihm Chelseas Bild.
» Ein weißes Mädchen?«, fragte er verblüfft. » Nein. Das ist unmöglich. Das muss ein Missverständnis sein.«
» Ist heute irgendetwas Ungewöhnliches passiert? Etwas, das uns einen Hinweis gibt, wo dieses Mädchen stecken könnte?«, fragte ich. » Eine Lieferung oder …«
» Nein.« Plötzlich blitzten seine Augen auf. » Doch. Als ich hereinkam, hörte ich ein lautes Geräusch an der Seite, an der mein Büro liegt. Zwischen uns und der Baustelle nebenan gibt es eine Gasse. Ich dachte, jemand von den Arbeitern hätte vielleicht wieder Schutt dorthin gekippt, aber als ich hinausblickte, war niemand zu sehen.«
» Bitte zeigen Sie uns die Stelle«, verlangte Emily. » Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
28
Die Gasse neben der Moschee war grässlich. Wasser – dem Gestank nach zu urteilen aus einer geplatzten Abwasserleitung – rann an der Backsteinmauer des im Bau befindlichen Nachbarhauses hinunter. Aus einem Fenster im zweiten Stock flatterte eine verblasste blaue Abdeckplane.
Man merkte, dass man sich in einem bösen Viertel von Manhattan aufhielt, wenn sogar die Immobilienhaie das Schiff verlassen hatten.
Die Schutthaufen in der düsteren Gasse sahen aus wie aus einem Fotoband über die Weltwirtschaftskrise. Ich rannte bis zum Ende und bedauerte, keine Gummistiefel mitgenommen zu haben, als ich über Mülltüten, alte Backsteine und eine verrostete Autotür stieg.
Auf dem Rückweg prallte ich fast gegen einen Kühlschrank, der mit geschlossener Tür auf dem Rücken lag. Von Gesetzes wegen sind Hausmeister verpflichtet, die Türen abzumontieren, damit neugierige Kinder beim Spielen nicht in den Kühlschränken ersticken.
Ein plötzlicher Gedanke ließ mir den Atem stocken.
Ich trat die Kühlschranktür mit dem Schuhabsatz auf.
Irgendetwas in meiner Brust löste sich, als ich nach unten blickte.
Ich wollte nicht sehen, was ich sah, und wandte den Blick ab, rannte zum Zaun hinter mir, wo ich meine zitternde Hand vor den Mund hielt und auf die hinter dem Zaun im Schutt liegenden Glasscherben starrte. Ein Zug quietschte und rappelte in der Ferne, der Wind spielte mit einer Plastiktüte. Ich näherte mich dem Kühlschrank erst wieder, als Emily kam. Wir standen neben dem offenen Gerät, in feierliches Schweigen vertieft wie Trauernde neben einem seltsamen weißen Sarg.
Aus dem Kühlschrank starrte Chelsea Skinner zu uns heraus.
Der Entführer musste ihr den Hals gebrochen haben, um sie in den Kühlschrank quetschen zu können, weil ihr Oberkörper nach unten zeigte. Auch ihre Beine schienen gebrochen zu sein.
An ihrem Kopf prangte ein Einschussloch, auf der Stirn ein Aschekreuz.
Emily legte ihre Hand mit dem Gummihandschuh auf die Wange des toten Mädchens.
» Ich werde diesen Kerl finden, der dir das angetan hat«, versprach sie und zog ihr Telefon heraus.
29
Das Wummern des tief fliegenden Polizeihubschraubers schien sich in meinem Blut fortzusetzen, als ich die enge Gasse zum Bürgersteig zurückrannte. Ich blickte die Reihe verfallener drei- und vierstöckiger Backsteinhäuser auf der anderen Straßenseite entlang. Die Erdgeschosse vieler dieser Gebäude waren leer stehende Geschäfte mit heruntergelassenen Stahlrollläden, doch in vielen Fenstern darüber hingen Vorhänge und Rollos vor den Fenstern, die zur Gasse hinausgingen. Mit Sicherheit hatte jemand etwas beobachtet.
Ein Wagen der Sondereinheit war vor der Moschee eingetroffen. Durch die Windschutzscheibe erkannte ich Lieutenant Montana, der über Funk Verstärkung anforderte. Um den Wagen hatte sich bereits eine Gruppe von Schaulustigen versammelt, viele davon waren Moscheegänger, Männer mit Kufiyas und einige Frauen mit Hijabs um ihre Köpfe; doch auch Nichtmuslime, die hier wohnten, suchten
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