Sünde einer Nacht (Geschichtentrilogie Band 3 Romantische Geschichten)
Mauer zum Westen. Und Reporter überall.
Jeder versuchte hysterisch, wie alle Menschen, die sich da so übermütig, so laut und so glücklich tummelten, den anderen zu überschreien, die Musik zu übertönen.
- So ein Tag, so wunderschön wie heute... -
„Die Grenzen sind offen. Die Mauer kommt weg“, sagte Siggi lakonisch.
Es war einfach unbegreiflich. Wenn es kein Traum war, wollte ich mich selbst überzeugen, dass es wahr war. Ich wollte mit all den Menschen, die da mitten in der Nacht tanzten, lachten, sangen, fröhlich sein. Wollte, wenn es doch wahr wäre, was da im Fernsehen vor sich ging, zum zweiten Mal in meinem Leben, das erste Mal war ja der 4. November, die Demo der Hunderttausend, ein Teil der Masse sein, ein Teil eines unentwirrbaren Ganzen. Ich wollte wieder dazugehören. Noch einmal dieses unwahrscheinliche Glücksgefühl erleben, erfühlen, erriechen.
Mit all meinen Sinnen wollte ich dieses Gefühl der Stärke und doch auch der unterschwelligen Angst auskosten. Denn jeden Augenblick könnte die Friedfertigkeit der unzähligen Menschen, die da die Mauer erstürmten, in Chaos ausarten. Eine Bombe könnte platzen. Ein Flugzeug explodieren. Feuer vom Himmel regnen. Die Russen könnten mit ihren Panzern anrollen. Wie damals 1953. Oder ich könnte auch nur ohnmächtig werden. Inmitten dieser unübersehbaren Masse, dieses Stroms, der jeden Augenblick zu einer reißenden Sturzflut werden könnte. Ja, in so einer Nacht durfte ich nichts verpassen.
„Komm, zieh dich an.“ Schnell nahm ich Siggis Hand. „Ab zum Brandenburger Tor.“
„Nein.“
„Mach schon. Bitte.“
„Ich gehe nicht mit einer Verräterin.“
Verräterin. Ich? Nie und nimmer. Ich empfand mich als treue Staatsdienerin. Die DDR war mein Staat, meine Heimat, mein Leben. Ich war ein Kind dieses Staates. Und ich war ein glückliches Kind. Doch in der Partei war ich nicht. Ich war ein freiheitsliebender Mensch. Und nun nannte mich Siggi, mein Liebhaber, den seine Frau wegen seiner Partei verlassen hatte, eine Verräterin. Und ich fühlte: Er wurde von unterschwelligen Visionen heimgesucht. Ahnungen. Bildern, über die zu sprechen ihm jetzt unmöglich war.
„Nein“, sagte er bestimmt, „es geht nicht. Die würden uns auch totdrücken. Und wie es aussieht, kommt doch da kein Auto durch. Die Bahnen sind bestimmt überfüllt. Wenn die überhaupt fahren. Und zum Laufen ist es zu weit.“
Das stimmte schon. Und meine Lieblingsstraße Unter den Linden war verstopft. Und der Pariser Platz auch. Hier wäre tatsächlich kein Durchkommen. Doch ich schrie Siggi an:
„Alles Ausreden!“ Ich war wütend. Enttäuscht. Unglücklich. „Feigling. Verdammter!“
Siggi zog sich schnell an.
„Wenn du das so siehst“, sagte er beleidigt, „kann ich ja gehen.“ Er hatte die Hand schon auf der Klinke. „Und ich dachte wirklich, dass du die Frau fürs Leben bist.“
Mein Bernstein fuhr in sein verlassenes Haus. Nach Wendenschloss.
Ich guckte weiter in die Röhre. Wurde neidisch auf die Leute, die da so verrückt abfeierten, während ich nun so allein war, mich nicht getraute, auf die Straßen zu gehen und unter das lebendige Getümmel zu mischen.
Noch lange drang das Getöse von der Straße und aus dem Fernseher in mein Wohnschlafzimmer, das jetzt, ohne Bernstein, all seinen Glanz verloren zu haben schien.
Unglücklich wickelte ich mich in die rote Plüschdecke und schlief irgendwann ein.
Ich träumte von unserer Kaufhalle nahe der Mauer. Später wurde das die Kaiserhalle.
Alle Regale waren prall gefüllt mit frischem Obst und Gemüse. Es gab die herrlichsten Dinge, Bananen und Apfelsinen und Früchte wie aus Tausend und einer Nacht, und überall prangten duftende Blumen in allen Farben. Und alle Menschen lächelten sich stumm an, umarmten und küssten sich. Ein wunderschöner Traum.
Noch ganz benommen von diesem Wunschtraum, sprang ich auf, lief ins Bad, wusch und kämmte mich flüchtig, zog mein rotes Kleid an, rannte zur Kaufhalle. Doch der Traum war ein Traum. Alles war wie immer. In der Kaufhalle, meine ich. Kein frisches Obst. Keine Blumen. Keine sich umarmenden, küssenden Menschen. Nur aufgeregte Menschen überall. Auch ich war aufgeregt. Lief schnell die paar Meter zum Grenzübergang Heinrich - Heine - Straße, fragte den Grenzsoldaten, der da übernächtigt und zitternd wachte:
„Sind die Grenzen morgen auch noch geöffnet? Kann ich morgen rüber? Heute muss ich zur Arbeit.“
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