Sünde einer Nacht (Geschichtentrilogie Band 3 Romantische Geschichten)
den jungen Grenzsoldaten. Er hatte alle Mühe, die Menschen zurückzuhalten, sie zur Ruhe zu ermahnen, ihre Ausweise zu zeigen, ehe er sie passieren ließ zur Zollkontrolle. Mit unsicherer Stimme gab er Antwort auf meine überstürzten dummen Fragen:
„Ich weiß nicht. Kann sein, kann aber auch nicht sein, kann sein, dass morgen alles wieder anders ist. Ich weiß gar nichts.“
Natürlich wusste er nichts. Woher auch. Niemand wusste etwas. Es schien, als würden die Dinge ihren Lauf nehmen, ohne dass jemand etwas tat. Als würde all das, was jetzt geschah, von einer höheren, unsichtbaren Macht gelenkt.
Ich ging, auch unsicher. Musste ja ins Studio. Meinen nächsten Satz loswerden in Der letzte Rächer.
Wehmütig warf ich noch einen Blick auf die unübersichtlich lange Schlange vor dem Grenzübergang, die schnell länger wurde, wuchs und wuchs.
Woher kamen nur diese vielen Menschen? Mussten die nicht arbeiten? Die hatten sich alle hier versammelt, weil sie endlich nach drüben wollten, in den goldenen Westen, nach Westberlin. Ohne Visa. Nur mit dem Personalausweis.
„Hundert Mark soll’s geben“, sagte ein Mann zu seiner Frau, die schon ihren Ausweis in die Höhe hielt, „unser erstes Westgeld.“
„Und was machen wir damit?“
„Weeß ick noch nich.“
Der Mann lachte schallend. Die Umstehenden fielen ein.
„Schokolade soll’s geben, einfach so, ohne Geld“, freute sich ein kleines Mädchen.
„Und Kaffee“, sagte die Mutter.
Alle Menschen waren aufgewühlt, aufgelöst. Sogar die Luft schien erfüllt von einer unglaublichen Euphorie. Es war etwas geschehen, von dem man ein Leben lang geglaubt hatte, es könnte geschehen, müsste geschehen, doch man selbst würde es wohl niemals erleben. Etwas, dass immer ein Phantom, eine Fata Morgana, ein wunderschöner Traum bleiben würde. Etwas, das nur in der Fantasie möglich war.
Und nun war der Traum kein Traum mehr. Und selbst der graue Novemberhimmel erstrahlte im schönsten Himmelblau.
Und im schönsten Himmelblau strahlten auch die Augen meiner Kollegen.
„Es hat doch was gebracht, dass wir am 4. demonstriert haben“, war Renate überzeugt.
„Und ich bin stolz darauf, an so einem historischen Tag, wie die Westmedien ihn nennen, mitgemischt zu haben“, sagte ich.
Alle lachten, und Claudia, die nun verheiratet war, zum zweiten Mal, sagte:
„Ich habe noch nie so viele Menschen freiwillig zusammenkommen sehen. Und dann diese Plakate. Diese Sprüche.“
„Vor ein, zwei Monaten wäre man dafür fast gehenkt worden.“ Ich schaute Uschi an und fügte zögernd hinzu: „Bildlich gesehen, meine ich.“
„Und jetzt streuen sich die Kommunisten Asche aufs Haupt. Keiner glaubt ihnen“, sagte sie.
Der Regisseur stopfte seine teure Pfeife. Zog gemächlich daran. Ein süßlicher Geruch verbreitete sich und erfüllte duftend den Raum.
„Die Spira machte auf dem Podium eine tolle Figur“, sagte er zufrieden. „Wie sie so dem Publikum euphorisch kundtat, wie glücklich sie sei, das ostdeutsche Volk so vereint zu sehen, so siegesgewiss auf eine neue Ära hoffend. ‘Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben’, tönte sie von ihrer Höhe. Und die Massen jubelten ihr zu.“
„Ja“, jubelte auch ich, „es war Wahnsinn. Es ist Wahnsinn! Und auch Stephan Heym ist Wahnsinn.“
„Stimmt. Der ist auch so alt wie die Spira. Da können wir Jungen uns wirklich eine Scheibe abschneiden. Was die noch für einen Elan haben.“ Claudia nickte anerkennend.
„Hat euch die Spira auch den Trab des Schaukelpferdes geschenkt?“, fragte ich in die Runde.
Alle verneinten.
„Mir aber“, sagte ich stolz. „Nachdem ich ihr einmal einen kleinen Strauß Blumen geschenkt hatte, einfach so, weil ich sie so gut finde.“
„Und was steht in dem Buch“, fragte mein Spielpartner neugierig.
„Ihr Leben“, triumphierte ich übermütig. „Und das Buch halte ich in Ehren.“
„Du kannst es mir ja mal borgen“, sagte Uschi.
„Klaro“, war ich einverstanden. „Und auch wir wollen nicht zu spät kommen“, nahm ich den Faden wieder auf. „Gorbatschow hatte recht. Er hat alles kommen sehen. Die Regierung hätte den Sputnik nicht verbieten sollen. Mit Verboten weckt man schlafende Hunde.“
„Kleine Philosophin“, neckte der Regisseur, während blaue Rauchschwaden unseren Geist umnebelten.
„Immerhin bewies er Mut. Schabowski, meine ich“, sagte ich und dachte an Siggi, der ein Feigling war, und trank meine
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