Sünden der Nacht
unten an der Straße schauten die Nachbarn aus ihren Fenstern. Oscar Rudd kam aus seiner Küchentür, mit einer Hose, von der die roten Hosenträger wie Schlingen baumelten, und Halbschuhen ohne Socken. Ein schmuddliges Thermo-371
unterhemd bedeckte seine Brust und seinen gigantischen Bauch.
Aus seinen Ohren sprossen mehr weiße Haare, als er auf dem Kopf hatte.
»He!« brüllte er Steiger an. »Schaff die Karre aus meinem Garten! Und fahr ja nicht rückwärts gegen meine Saabs! Das sind Antiquitäten!«
Mitch ignorierte das Scharmützel und stakste direkt auf Paige zu. Sie hielt ihr Mikrofon schützend vor sich wie ein Kreuz, mit dem man Vampire abwehrt.
»Chief Holt, wie lautet Ihr Kommentar zu den Ereignissen?«
Er riß ihr das Mikrofon aus der Hand, packte den
Reißverschluß ihrer Skijacke und zog ihn herunter.
»Ist das alles, Miss Price?« fauchte er. »Kein Körpermikro?
Kein Kassettenrecorder im BH?«
»Ne-nein«, stammelte sie und wich zurück.
Er blieb an ihr dran, Schritt für Schritt. Der Kameramann wollte ihr zu Hilfe kommen. »He, Kumpel, das war eine teure Kamera, die du da geliefert hast. Du kannst von Glück reden, wenn die Station dich nicht verklagt.«
Mitch wandte sich zu ihm. Seine Stimme war unheimlich
sanft.
» Ich kann von Glück reden? Allerdings kann ich von Glück reden.« Er beugte sich zu dem Kameramann, bis ihre Nasen aneinanderstießen.
»Laß dir was sagen, Kumpel. Deine Scheißkamera ist mir egal.
Du und deine Eisschnalle hier, ihr habt eine polizeiliche Ermittlung gestört. Das ist ein Verbrechen, Junior. Und wenn Josh Kirkwood stirbt, weil ihr uns das vermasselt habt, ist das nach meinem Rechtsbuch Beihilfe zu Mord.«
Er wandte sich wieder Paige zu. »Das wäre doch eine tolle Story für Sie, nicht wahr, Paige?« Er deutete in ihre Richtung und brüllte wie ein Showmaster: »Live aus dem
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Frauengefängnis in Shakopee: Paige Price!«
Paige zitterte vor Furcht und Zorn. Sie haßte ihn, weil er ihr angst machte, und haßte ihn, weil er ihr das Gefühl gab, verantwortlich zu sein. »Ich bin Reporterin«, sagte sie trotzig. »Nicht ich hab Leslie Sewek zu einem Kinderschänder gemacht und hab auch Josh Kirkwood nicht entführt – und ich lasse mir nicht die Verantwortung zuschieben, wenn ihm jetzt etwas zustößt.«
Mitch schüttelte den Kopf, völlig perplex und total angewidert.
Seine Lungen schmerzten von einer Überdosis kalter Luft, die er bei der Verfolgung Olies eingeheimst hatte. Seine bloßen Hände zuckten plötzlich vor Kälte, aber er machte keine Anstalten, seine Handschuhe anzuziehen oder seine Jacke zu schließen. Er spürte eigentlich gar nichts, so schockiert war er von dieser verlorenen Chance. Olie hätte sie vielleicht zu Josh geführt. Die Frau, die vor ihm stand, hatte ihnen eine Lösungsmöglichkeit gestohlen und besaß nicht einmal den Anstand, sich zu entschuldigen.
»Sie kapieren es einfach nicht, nicht wahr, Paige?« murmelte er. »Hier geht’s nicht um Sie. Sie sind ein Niemand. Ihr Job, Ihre Einschaltquoten, Ihr Sender, das alles ist wertlose Scheiße.
Hier geht es um einen kleinen Jungen, der in seinem Bett liegen und sich eine Gutenachtgeschichte anhören sollte. Hier geht’s um eine Mutter, der ihr Kind entrissen wurde und einen Vater, der seinen Sohn verloren hat. Hier handelt es sich um das echte Leben … und es könnte sich auch einen echten Tod handeln, wegen Ihnen.«
Er drehte sich um und ging zu dem einsamen grünweißen
Streifenwagen, der mit laufendem Motor auf ihn wartete, eingehüllt in weißen Auspuffdampf. Paige sah ihm nach, und in ihr regte sich zum ersten Mal, seit sie denken konnte, so etwas wie ein Gewissen. Sie dachte, sie hätte es vor Jahren
ausgemerzt, wie eine unschöne Warze von ihrem makellosen Kinn. Ein Gewissen war überflüssiger Ballast.
Sie kannte zwar Kollegen, die es ohne Murren trugen, aber 373
persönlich hegte sie die Auffassung, daß es den Aufstieg an die Spitze behinderte. Jetzt …
Sie schüttelte das Gefühl ab und wandte sich zu Garcia. »Hast du alles?« fragte Paige.
Der Kameramann zog einen Minirecorder aus der Brusttasche seines Parkas und schaltete ihn ab.
Paige warf einen Blick auf die Leuchtziffern ihrer Uhr. »Gehn wir. Wenn ich mich beeile, kann ich die Story bis zehn Uhr fertig haben.«
22 Uhr 27, -35 Grad, Windabkühlungsfaktor: -52 Grad
»Möchten Sie, daß bei diesem Verhör ein Anwalt dabei ist, Mr. Sewek?«
Olie zuckte beim Klang seines Namens zusammen, als
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