Sünden der Nacht
ihrem Irish Coffee.
»Du warst auch bei Fletcher, Chief«, sagte sie streng. »Warum 519
spielst du jetzt des Teufels Anwalt bei mir?«
»Weil es mir gefällt.«
»Abgesehen von deinen angeborenen perversen Neigungen, darf ich doch wohl annehmen, daß du einen Grund hattest, dort zu sein.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich hab nur rumgeschnüffelt.
Fletcher ist von der Kirche besessen. In drei der Nachrichten wird Sünde erwähnt. Josh mochte seinen Religionsunterricht nicht.«
»Wer kann ihm das verdenken, mit Albert Fletcher als
Lehrer?« Megan schüttelte sich. »Albert Fletcher würde sogar unseren Bischof das Fürchten lehren.«
»Ich hab mir noch mal die Aussage angesehen, die er bei Noogie gemacht hat an dem Abend, als Josh verschwand«, sagte Mitch. Er suchte sich eine Erdnuß aus dem Korb, der auf dem Tisch stand, knackte sie mit der Hand und warf sich die Nüsse in den Mund. »Es gibt nichts, was Verdacht erregen könnte.«
Oberflächlich war tatsächlich nichts an Albert Fletcher auffällig, der seit seiner Pension als aktives Mitglied der Gemeinde galt.
Nicht gerade das, was man im allgemeinen als Profil eines Kinderschänders bezeichnen würde – dennoch gab es genauso viele Punkte, die exakt in dieses Schema paßten. Fletchers Pflichten in der Kirche brachten ihn in die Nähe von Kindern.
Durch seine Autorität in St. Elysius war er für groß und klein gleichermaßen eine Vertrauensperson. Aber eine solche Vertrauensposition würde wohl kaum von ihm als erstem mißbraucht.
»Hat er Olie gekannt?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß die beiden in denselben Kreisen verkehrten, aber wir werden es überprüfen. Morgen früh will ich selbst mit ihm reden.« Am liebsten hätte er Fletcher gleich heute nacht aufs Revier zitiert, aber so was lief leider anders. Er konnte den Mann nicht einfach wegen einer Ahnung und drei Jahre alten Gerüchten einbuchten. Keiner hatte ihn in 520
Zusammenhang mit Josh erwähnt, außer durch seine Stellung in der Kirche. Vergangene Woche erwähnte niemand irgendwelche verdächtigen Vorkommnisse in Fletchers Haus. Mitch hatte trotzdem für alle Fälle einen Mann postiert, der das Haus die ganze Nacht beobachtete.
Er zog seine Brieftasche heraus und warf ein paar
Dollarscheine auf den Tisch. Megan folgte seinem Beispiel. Die Barfrau watschelte aus ihrer Theke, um die Beute
einzustreichen.
»Schaut mal wieder rein«, rief sie ihnen nach. Ihre Stimme klang wie Louis Armstrong mit einer bösen Erkältung.
Als sie auf den Gehsteig hinaustraten, verschlug es Megan den Atem vor Kälte. Nicht einmal die Wärme des Whiskeys konnte verhindern, daß ihre Zähne wieder anfingen zu klappern.
»Jesus, Maria und Joseph«, stammelte sie und kramte ihre Wagenschlüssel aus der Handtasche. »Wenn Josh nicht wäre, würde ich hoffen, daß sie mich feuern. Für solche Lebensbedingungen sind Menschen nicht geschaffen.«
»Abhärten oder untergehen lautet die Parole, O’Malley«, sagte Mitch ohne eine Spur von Mitleid.
»Wenn ich noch härter werde, prallen Kugeln von mir ab«, konterte sie und rutschte hinter das Steuer ihres Lumina.
Sie begann das Ritual, den Motor zum Leben zu erwecken und sah Mitch nach, wie er in den Explorer stieg. Die Straßen von Deer Lake waren menschenleer, das Blue Goose der einzige offene Laden. Als er wegfuhr, fühlte sie sich mit einem Mal innerlich leer, als wäre sie das einzige menschliche Wesen auf diesem Planeten.
Es gab Schlimmeres, als allein zu sein. Aber während sie da in der kalten, dunklen Nacht saß, in der ein Kind vermißt wurde und ihre Zukunft an einem seidenen Faden hing, hatte sie große Mühe, sie einzusehen.
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TAGEBUCHEINTRAG TAG 8
Heute haben sie die Jacke gefunden. Sie wissen nicht, was sie davon halten sollen. Sie wissen nicht, wo sie anfangen sollen.
Wir können ihre Panik riechen. Sie schmecken. Es bringt uns zum Lachen. Sie sind berechenbar wie Ratten in einem Labyrinth. Sie wissen nicht, in welche Richtung sie gehen sollen, also gehen sie aufeinander los und haschen nach jedem Strohhalm, in der Hoffnung auf eine Spur. Sie verdienen, was immer das Schicksal für sie bereithält. Den Zorn Gottes. Den Zorn der Kollegen, der Nachbarn, der Fremden. Zorn regnet auf die Köpfe der Schuldigen und der Narren herab.
Sollten wir ihnen etwas geben und sehen, wohin es sie führt?
Alle Szenarios sind durchgeplant, weit über den Augenblick hinaus.
Wenn wir ihnen A geben, wird es sie zu B führen? Wenn sie auf C
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