Sünden der Nacht
»Ich hau hier ab.«
»Paul …«
»… bin in meinem Büro«, sagte er knapp und brach auf.
»Vielleicht möchtest du die Polizei informieren, damit sie mich beobachten lassen können.«
Er war nicht zurückgekommen, hatte nicht angerufen. Und sie rief ihn nicht an, aus Angst, er könnte nicht abnehmen. So wie in der Nacht, als Josh verschwunden war.
Ihr Körper bebte, und sie drückte sich tiefer in den Stuhl, wickelte die Arme um die Knie. Sie wollte die Zweifel und Fragen nicht, die an den Rändern ihres Verstandes wie Mäuse nagten, wollte nicht an das Interview denken, das sie heute abend Katie Couric geben würde. Sie wollte nur ihre Augen schließen und alles hinter sich lassen. Statt dessen schloß sie die Augen und sah Josh. Er lebte. Ausdruckslos. Stand in einem grauen, formlosen Vakuum, sagte nichts. Zeigte durch nichts, 559
daß er sie erkannte oder auch nur sah. Er stand einfach da, während ihre Perspektive sich um ihn verschob, langsam kreiste, alles an ihm aufnahm. Auf der rechten Wange zeigte sich ein Bluterguß. Er trug einen gestreiften Pyjama, den sie noch nie gesehen hatte. Obwohl seine Ärmel undurchsichtig waren, wußte sie, daß er einen Verband am Ellbogen seines linken Arms hatte. Genau wie sie wußte, daß sein Geist von demselben grauen Nebel, der ihn umfing, erfüllt war, mit Ausnahme eines Gedanken – Mom.
Hannahs Puls überschlug sich. Sie wollte ihn berühren, konnte aber die Arme nicht heben, versuchte ihm etwas zuzurufen, aber kein Wort drang über ihre Lippen. Wenn sie ihn nur zwingen könnte, sie anzusehen – aber er sah durch sie hindurch, als wäre sie nicht da. Die Frustration staute sich wie Dampf in einem Kessel in ihr, bis sie schrie und schrie und schrie.
Sie zuckte in ihrem Stuhl zusammen, riß die Augen auf. Ihr Herz raste. Das Nachthemd und die Leggings, die sie trug, waren schweißgetränkt. Ihrer Ansicht nach konnte sie höchstens ein paar Minuten eingenickt sein. Die Uhr auf Pauls Nachttisch allerdings bewies, daß sie über eine Stunde geschlafen hatte. Es war zwei Uhr vierzig.
Das Bett war immer noch leer.
Das Telefon klingelte, und sie stürzte sich auf den Hörer, der Rest ging zu Boden. »Paul? Paul?«
Schweigen antwortete ihr, schwer und dunkel.
Sie sank langsam zu Boden, lehnte sich gegen das Bett.
»Paul?« versuchte sie es erneut.
Die Stimme kam, leise und unheimlich, ein Flüstern wie Rauch. »Eine Lüge ist der Griff, der für alle paßt.«
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Kapitel 31
TAG 10
5 Uhr 47, -31 Grad, Windabkühlungsfaktor: -40 Grad Die Sünde hat viele Werkzeuge, aber eine Lüge ist der Griff, der für alle paßt, war ein Zitat von Oliver Wendell Holmes, wie sie herausfanden.
Sie hatten das Zitat in einem alten, eselsohrigen Buch der Zitate in Pauls Büro zu Hause gefunden, einem makellosen Raum, der einen Platz in einem Einrichtungsmagazin verdiente.
Megan hatte sich alles angesehen. Kein Buch, kein Stift, die nicht an ihrem Platz lagen. Kein Staubkörnchen. Nicht ein Bild hing schief an der Wand. Zwanghaft, fanatisch ordentlich. Ganz bestimmt nicht Hannahs Werk; Hannah wußte nicht einmal, ob Paul ein Buch mit Zitaten besaß. Jeder, der einen Raum so sauber hielt, mußte jeden einzelnen Titel in den Regalen kennen.
Serienmörder waren oft zwanghaft ordentlich. Megan wußte das aus ihren Kursen über Verhaltenswissenschaft auf der FBI-Akademie.
Keiner betrachtete Paul Kirkwood als potentiellen
Serienmörder; trotzdem legte sie seine zwanghaften Tendenzen in ihrem Gedächtnis auf Wiedervorlage. Das und die Tatsache, daß er außer Haus gewesen war, als der Anruf reinkam. Der Wachkommandant hatte ein Team zum Omni-Komplex
geschickt; die Beamten hatten Paul aus angeblichem Tiefschlaf auf dem Sofa geweckt und ihn zurück nach Hause eskortiert.
Megan sah die Besorgnis in Hannahs Gesicht, als Paul die Küche betrat. Die Spannung zwischen den beiden bog sich wie eine Eisplatte.
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Großer Gott, war denn der Verlust von Josh nicht genug?
Mußte auch noch ihre Ehe draufgehen? Andererseits, hatte Hannah nicht etwas Besseres verdient als Paul? Er war schwach und egoistisch und wehleidig, Megan hatte ihn praktisch vom ersten Augenblick an verachtet. Aber hatte er seine Frau mitten in der Nacht angerufen und sie mit diesen Andeutungen über Lügen in Panik versetzt? Wenn ja, dann war er ein verdammt guter Schauspieler. Die Nachricht von dem Anruf hatte ihn erschüttert: vor Angst oder aus Schuldgefühl?
Der Anruf war von irgendwoher in Deer Lake gekommen,
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