Sünden der Nacht
Vans langsamer vorbei, damit sie sich noch ein paar Fahrzeuge ansehen konnte. Als sie wieder in ihrer Straße waren, passierte er ihr Haus und den Parkplatz der Eishalle. In zehn Metern Abstand von Olies Van blieb er stehen, sagte aber nichts.
Helen runzelte die Stirn. Sie nagte an ihrer Unterlippe. Mitch drehte sich der Magen um.
»Eher wie der hier«, sagte sie langsam.
»Aber nicht genau wie der hier?«
Sie drehte den Kopf hin und her, als könne sie dadurch eine Erinnerung losschrauben. »Ich glaube nicht. Irgend etwas ist anders – entweder die Farbe oder die Form – aber es kommt dem nahe … ich weiß nicht.« Sie wandte sich ihm zu und schüttelte bedauernd den Kopf.
»Tut mir leid, Mitch, ich hab ihn nur für ein paar Sekunden gesehen, es war ein flüchtiger Eindruck, mehr nicht. Natürlich würde ich gerne sagen, er wär genau wie der hier gewesen, aber das kann ich nicht.«
»Ist schon okay«, murmelte er, wendete den Explorer und fuhr zurück zu Helens Haus. »Hast du dich gut amüsiert im
Theater?« fragte er, als sie ihre Handtasche vom Boden aufhob.
»Ja«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln. »Wes ist nett.
Danke, daß du ihn mir vorgestellt hast. Du bist ein guter Mensch, Mitch.«
»So bin ich eben – der letzte der guten Menschen.«
Irgendwie schon ein Witz, fand er. Ja, er war ein guter Mensch, dirigierte das Interesse von Frauen auf Freunde, damit er seine Ruhe hatte.
Du kannst aber nicht behaupten, daß du bei Megan heute abend gekniffen hast, was, Holt?
Die Erinnerung an Hitze und weiche Haut und den kühlen 215
Atem der Nacht stahl sich in sein Bewußtsein. Der Geschmack von Süße. Seltsam, wie jemand mit einer so spitzen Zunge so süß schmecken konnte. Sie war diejenige gewesen, die sich zurückgezogen hatte. Er hätte sie beide über den Punkt ohne Wiederkehr gebracht.
»Dein Timing stinkt zum Himmel, Mitch«, tadelte er sich und bog in südlicher Richtung ab. An der nächsten Ecke fuhr er nach Osten weiter, die Straße hinunter, die hinter der Eishalle entlangführte.
Der Fall erforderte all ihre Energie. Und wenn Megan
herausfand, daß Olie Swain einen Van besaß und er ohne sie bei Olie gewesen war, würde er derjenige sein, der den Kopf einziehen mußte. Sie hatte Olie ohnehin schon im Verdacht und würde sich auf die Spur mit dem Van stürzen wie eine Wölfin auf einen Hasen – Olie würde ausrasten! Mitch wußte, daß Olie selbst bei den harmlosesten Frauen in Deckung ging. Er konnte es nicht riskieren, daß der Kerl abhaute, falls er tatsächlich etwas mit dem Verschwinden von Josh zu tun haben sollte.
Olies Haus war eine umgebaute Einzelgarage, die auf dem letzten Grundstück am Ende der Straße stand. Das Haupthaus darauf gehörte Oscar Rudd, der schrottreife Saabs sammelte und sie auf jedem verfügbaren Zentimeter Platz des Grundstücks und der Straße parkte, ein Verstoß gegen drei städtische
Verordnungen. Somit blieb für Olie kein Abstellplatz für seinen Van. Olie parkte ihn bei der Eishalle und ging zu Fuß nach Hause und zurück, durch Schnee, Matsch und Schlamm, was immer die Jahreszeit auf dem leeren Grundstück zwischen Heim und Arbeitsstelle für ihn bereithielt.
Die Garage war genau wie das Haupthaus mit asphaltbe-
schichtetem Teerpapier verkleidet, das wie Backsteine angemalt war. Es täuschte niemanden. Ein Ofenrohr ragte schief aus dem Dach, der Abzug des Holzofens, mit dem er alles beheizte. Licht schien aus dem einzigen Fenster seitlich am Gebäude. Mitch hörte das Schnattern des Fernsehers, als er den freigeschaufelten 216
Weg zur Tür hochging. David Letterman (= David der Dichter).
Er hätte gar nicht gedacht, daß Olie soviel Sinn für Humor besaß. Als er klopfte, verstummte der Fernseher.
Er klopfte noch einmal.
»Olie? Ich bin’s. Chief Holt.«
»Was wollen Sie?«
»Bloß reden. Ich hab ein paar Fragen, die Sie vielleicht beantworten können.«
Die Tür öffnete sich, und Olies Visage erschien im Spalt, die Augen rund und mißtrauisch. »Fragen über was?«
»Verschiedene Sachen. Kann ich reinkommen? Es ist eiskalt hier draußen.«
Olie machte ein paar Schritte rückwärts. Mehr Einladung war er nicht bereit zu geben, er mochte keinen Besuch. Das war seine Zuflucht, wie der alte Schuppen, den er als Kind zufällig gefunden hatte. Der Schuppen stand auf einem verlassenen Grundstück, nicht weit vom Stadtrand, da, wo die Asozialen wohnten. Das Land grenzte an den Stadtpark, aber die Wege in diesem Teil des Parks waren
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