Sünden der Nacht
den
Lüftungsklappen blies munter ein Hauch Arktis.
Um sich von der Tatsache abzulenken, daß ihre Fingerspitzen allmählich taub wurden und die Haare in ihrer Nase gefroren, sah sich Megan die Stadt an, deren baumbestandene Straßen sie von Osten nach Westen durchfuhr. Der etablierte ältere Teil von Deer Lake war so richtig spießig – gemütliche Einfamilien-häuser, Hunde, die die Schneemänner der Kinder anpinkelten, welche man soeben mit Minivans in die Schule brachte. War es die Kälte oder Josh Kirkwood, der sie von den Gehsteigen 225
vertrieben hatte?
Das Stadtzentrum sah aus wie eine Filmkulisse des Prototyps einer amerikanischen Stadt: der Rasen in der Mitte des Hauptplatzes mit seiner malerischen Tribüne für Musikkapellen und den Statuen längst vergessener Männer, die alten Läden mit den falschen Backsteinfassaden, das Gerichtsgebäude aus hiesigem Sandstein; an der Ecke das Park Cinema Theatre mit seiner echten Fünfziger-Jahre-Markise, auf der Philadelphia angekündigt wurde, Vorstellung um 7 und um 9 Uhr 20, und das prachtvolle alte Fontaine Hotel, vier Stockwerke renovierter viktorianischer Pracht.
Nördlich und westlich der Stadtmitte wichen die alten Viertel charakterlosen Bauten aus den Sechzigern, den Maisonette-häusern der Siebziger und dem letzten Schrei für Besser-verdienende – teure Häuser im Mischmaschstil, die auf einem oder mehr Morgen Land standen.
Pseudo-Tudor und Pseudo-Georgian, verschnörkelte
Holzhäuser mit Anbauten und Yuppie-rustikale Häuser, wie das der Kirkwoods mit Zedernholz verkleidet, und Gärten voller Birken und kunstvoll arrangierter Felsblöcke. Die Baufirmen hatten sich große Mühe gegeben, damit die Häuser so aussahen, als würden sie seit Jahrzehnten existieren. Geschickt
ausgesuchte Bauplätze, alter Baumbestand und gewundene Straßen vermittelten die Illusion von Abgeschiedenheit.
Das Haus der Kirkwoods stand am Seeufer, der jetzt nur eine schneebestäubte Eisfläche mit ein paar Hütten zum Eisfischen war. Im grauen Morgenlicht sah alles ziemlich öde aus. Hinter der westlichen Böschung kauerten die Gebäude des Harris College wie dunkle Pilze entlang der kahlen Allee. Südlich des College lag das, was einmal eine Stadt namens Harrisburg gewesen war. Im vorigen Jahrhundert hatte es mit Deer Lake konkurriert, was Handel und Bevölkerungszahl anging; aber letzteres hatte schließlich den Zuschlag für die Eisenbahn bekommen und den Titel Bezirkshauptstadt. Harrisburg
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verwaiste langsam, wurde schließlich annektiert und mußte es sich jetzt gefallen lassen, Dinkytown (= Bilderbuchland) genannt zu werden.
Megan parkte und zuckte zusammen, als der Motor des
Lumina beim Abstellen klopfte und klapperte, bevor er
verstummte. Vielleicht würde ihr das Bureau einen besseren Wagen zugestehen, wenn es ihr gelang, diesen Fall zu lösen.
Wenn sie es schaffte, würde vielleicht ein kleiner Junge in der halbfertigen Schneeburg auf dem vorderen Rasen der
Kirkwoods bald weiterspielen.
Hannah Garrison öffnete selbst die Haustür, sie sah sehr müde und angespannt aus. Angetan mit einem ausgebleichten Duke-Sweatshirt, marineblauen Leggins und dicken Wollsocken gelang es ihr dennoch, das Ganze mit einem Hauch von Eleganz zu tragen.
»Agent O’Malley«, sagte sie, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen bei dem Gedanken, was Megans Anwesenheit auf ihrer Schwelle bedeuten könnte. Sie klammerte sich so heftig an die Tür, daß ihre Knöchel weiß wurden. »Haben Sie Josh gefunden?«
»Nein, tut mir leid. Aber vielleicht haben wir eine Spur.
Jemand hat möglicherweise gesehen, wie Josh Mittwoch abend in einen Van stieg. Darf ich hereinkommen? Ich würde gerne mit Ihnen und Ihrem Mann reden.«
»Ja, natürlich.« Hannah machte den Eingang frei. »Ich muß Paul festhalten. Im Moment wollte er sich wieder an der Suche beteiligen.«
Megan trat ein und schloß die Tür hinter sich. Sie folgte Hannah in gebührendem Abstand, so daß sie alles beobachten konnte.
Im Wohnzimmer knisterte ein Feuer im Natursteinkamin, mit Glastüren und einem Funkenschirm zum Schutz des Babys, das auf dem Rücken eines riesigen Plüschhundes döste. Im
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Fernseher, der in einen kirschfarbenen Schrank eingebaut war, lief die Today-Show. Katie Couric piesackte Bryant Gumbel, Willard Scott lachte im Hintergrund wie ein Narr. Eine zierliche Frau mit großen braunen Augen und aschblondem Pagenschnitt brachte sie mit der Fernbedienung zum Schweigen und sah Megan
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