Sünden der Nacht
Vielleicht öffneten alle Frauen, die er mitten in der Nacht besuchte, die Tür mit einer Waffe in der Hand.
»Ich bin zufällig hier vorbeigefahren«, murmelte er. »Hab dein Licht gesehen.«
Megan überlegte, ob sie ihm erzählen sollte, daß sie Olies Fingerabdrücke hatte. Schließlich war er auch nicht herausgerückt mit Informationen, aber jetzt wollte sie das Thema nicht anschneiden. Es war spät, außerdem würde vielleicht nichts dabei rauskommen. Abgesehen
davon sah er nicht aus, als wolle er sich geschäftlich mit ihr unterhalten, sondern erschöpft und verloren. Jetzt wanderte er durch den Irrgarten von Kisten zu dem Fenster, das zur Ivy Street ging, blieb dort stehen und starrte hinaus in die Nacht.
Sie folgte ihm und strich gedankenverloren über Gannons Fell, als sie an dem Karton vorbeikam, den er sich als Bett erkoren hatte. Der graue Kater hob den Kopf und blinzelte sie an, dann richtete er den Blick auf Mitch und schnurrte zufrieden.
»Warum hast du dich heute abend abgeseilt?« fragte er, als sie ihre Schulter an den Fensterrahmen lehnte.
»Du hast die Zeit mit Jessie gebraucht. Ich wollte nicht stören …« Sie verstummte. »Wie war die Parade?«
»Traurig. Alle geben sich soviel Mühe … weil sie etwas bewirken wollen, weil sie Angst haben. Sie erwarten von mir, daß ich sie rette und merken gar nicht …«, er sah sie an. Seine whiskeybraunen Augen waren trüb und blutunterlaufen, der Streß hatte tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. »Ich bin kein Retter, bin bloß ein Cop. Und ich hab die Nase voll davon.« Er wandte sich zurück zum Fenster, schloß aber die Augen. »Mir reicht es allmählich.«
Die Nase voll von Schmerz, von der Verantwortung und der Panik in seinem Bauch; Angst davor, daß er keine speziellen Kräfte besaß, um alles Unrecht zu beseitigen, davor, daß er nicht Superman, sondern Clark Kent war, ein Größenwahnsinniger. Er drehte sich zu Megan und ließ sich all das von seinem Gesicht ablesen.
Die Megan mit den straff zurückgekämmten Haaren und der geschlechtslosen Garderobe sowie den Regeln und Vorschriften war nicht die Frau, die jetzt vor ihm stand. Ihr Haar hing offen auf die Schultern. Da sie nur ausgebeulte Wollsocken trug, war sie klein. In ihrem viel zu großen karierten Morgenmantel sah sie winzig aus, zart. Die heilige Johanna ohne ihre Rüstung. Sie stand da, wartete, stumm, geduldig.
»Ich hab nicht das Zeug zum Helden«, knurrte er. »Das sollten sie doch wissen.«
»Du tust dein Bestes«, sagte Megan, »wie wir alle.«
Mein Bestes war nicht gut genug. Wieder einmal. Sie erinnerte sich an seine Worte am Tag zuvor in der Garage der alten Feuerwache, geknickt von Reue und Selbstverachtung.
Sein Blick glitt wieder zum Fenster. »Ich werde den Gedanken nicht los, daß ich das hätte verhindern, es hätte ahnen müssen, vorher etwas
dagegen unternehmen.« Sein Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln. »Der Refrain meines Lebens.«
Megan stellte keine Fragen. Sie würde nicht betteln und es ihm entlocken. Er würde es ihr erzählen, weil er das Bedürfnis dazu verspürte, oder sie würden die ganze Nacht hier stumm stehen bleiben.
»Ich hatte einen Sohn«, sagte er schließlich. »Kyle. Er war sechs Jahre alt.«
Megan erstickte fast an dem Kloß in ihrem Hals.
»Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort.« Er schüttelte den Kopf. »Warum sagen wir das immer? Sie waren nicht am falschen Ort. Meine Frau und mein Sohn sind in den Laden gegangen, um Milch und Brot zu kaufen. Der Junkie mit der abgesägten Flinte war am falschen Ort. Aber ich hab sie dorthin geschickt, und zu was macht mich das?«
Zum Opfer, dachte Megan, obwohl sie wußte, daß seine Antwort ›schuldig‹ lauten würde. Kein Gericht der Welt hätte ihn je verurteilt, aber er selbst hatte kein Erbarmen mit sich und würde für den Rest seines Lebens büßen. Was für eine verdrehte Gesellschaft das doch war, in der ein guter Mann permanent bezahlen mußte für ein oder zwei Worte, für etwas so Einfaches wie die Entscheidung, wer einkaufen sollte – während ein Killer keine Reue empfand, keine Sekunde lang litt um die Leben, die er zerstört hatte.
»Er hat sie einfach über den Haufen geschossen«, flüsterte er, »als wären sie aus Pappe.«
Er sah sie immer noch, wie sie blutüberströmt auf dem dreckigen Linoleumboden lagen, ihr Leben ausgehaucht. Die Körper mit verrenkten Gliedern, wie weggeworfene Puppen; die Augen weit offen, starrten sie ihn mit dem
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