Sünden der Nacht
fest an sich und warf Joy einen warnenden Blick zu. »Es ist ein Vorfall, Joy, und keine Epidemie«, flüsterte er. »Jessie ist nur müde, stimmt’s, Schätzchen?«
Jessie nickte.
Joy streckte die Arme aus. »Na, dann komm mal zu Oma, Jessie. Wir gehn jetzt ins Bett.«
»Ich bring sie rauf«, keifte Mitch. Joy schniefte vorwurfsvoll, bedrängte ihn aber nicht weiter. Sie schnalzte mit der Zunge und ging ins Wohnzimmer, wo Washington Week im Fernsehen vor sich hin flimmerte und Jurgen in ein Buch vertieft war.
Mitch trug Jessie in ihr Zimmer und half ihr, das Nachthemd überzustreifen. Dabei plapperte er über die Snowdaze-Veranstaltungen am Wochenende und wieviel Spaß sie mit ihren Großeltern haben würde. Vielleicht würde Opa mit ihr die Eisskulpturen im Park anschaun gehen oder zum Schneebowling mit Menschen als Kegeln. Vielleicht könnten sie eine Schlittenfahrt machen. Oma hatte Karten fürs Eiskunstlaufen. Wär das nicht ein Spaß?
Jessie steuerte nichts zur Konversation bei. Sie wusch sich brav das Gesicht, putzte sich die Zähne und kletterte in das Bett, das Mitch für sie aufgeschlagen hatte.
»So, nun sag schön dein Gebet«, er gab ihr eine Kuß auf die Stirn. Jessie wand ihm ihr Gesicht zu, ihre großen, braunen Augen flossen über vor Tränen. Sie schluchzte: »Daddy, ich fürchte mich.«
Mitch hielt den Atem an. »Wovor fürchtest du dich denn, Schatz?« »Ich hab Angst, daß der böse Mann mich auch holt!«
Sie krabbelte auf seinen Schoß, als die Tränen hervorstürzten. Mitch nahm sie in die Arme und hielt sie fest. »Keiner wird dich holen, Süßes.«
»A-aber jemand hat J-Josh geh-holt! Oma sagt, es kann jeden Tag passieren!«
»Nein, kann es nicht«, Mitch wiegte sie hin und her. »Keiner wird dich holen, Schätzchen. Weißt du noch, wie wir über gefährliche Fremde geredet haben und daß du weglaufen sollst, wenn du vor jemandem Angst hast?«
»Aber sie h-haben Josh mitgenommen, und er ist ein großer Junge. Ich bin nur klein!«
Mitch zerriß es fast das Herz. Er zog Jessies Kopf wieder an seine Brust und schaukelte sie fester, rang heftig mit der eigenen Fassung.
»Keiner wird dich holen, Baby. Das laß ich nicht zu.«
Er würde sie vor allem bewahren.
So, wie er ihren Bruder vor allem bewahrt hatte?
Der Gedanke bohrte sich wie ein Messer, ein Stilett, tief durch Fleisch
und Knochen in seine Seele. Er biß sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte, kniff die Augen zusammen, bis sie brannten. Fest umklammerte er seine Tochter, in dem Bewußtsein, sein einziges Kind mehr zu haben, weil er ihren Bruder nicht vor allem hatte schützen können. Egal wieviel Mühe er sich gäbe, egal, wie fest er davon überzeugt wäre von seinen Verdiensten – es gab keine absoluten Garantien für Jessies Sicherheit.
Verflucht sollst du sein, wer immer du bist. Verflucht sollst du sein dafür, daß du Josh entführt hast, dieser Stadt ihre Unschuld geraubt hast. In der Hölle sollst du schmoren. Ich persönlich würde dich da hinschicken, wenn es in meiner Macht stünde.
Er klopfte Jessie zärtlich den Rücken und flüsterte ihr zu, bis die Tränen versiegten und sie einschlief. Dann steckte er sie mit ihrem Bären unter die Decke und blieb sitzen, beobachtete sie, labte sich an ihrem Anblick. Er liebte sie so sehr, daß es fast weh tat, saß da und merkte nicht das Verrinnen der Zeit. Joy und Jurgen kamen nach oben, sicher blieb Joy vor Jessies Tür stehen und horchte. Mitch verhielt sich ruhig, endlich wandte sie sich ihrem Zimmer zu und löschte unterwegs das Licht im Korridor.
Das Haus war schon lange still, als er langsam von Jessie wegrutschte und sich hinausschlich. Er ließ ihre Nachttischlampe an, für den Fall, daß sie aufwachte und sich fürchtete. Gerne hätte er sie mit zu sich genommen, aber Joy hatte ihn vor Monaten um dieses Wochenende gebeten. Dann war da außerdem der Fall. Seine Mitarbeiter sollten ihn sofort anrufen, falls sich irgendwas zu Josh ergab; hier bliebe Jessie die Aufregung erspart, wenn sein Piepser losging.
Die Uhr im Armaturenbrett des Explorer zeigte 0 Uhr 13. Um ihn herum herrschten Schweigen und Dunkelheit. Die Bars in der Innenstadt waren sicher noch offen, aber es grauste ihm vor Lärm. Der Big Steer Truck Stop draußen auf der Interstate hatte die ganze Nacht geöffnet, aber er wollte keine Fragen oder mit den Gästen und Angestellten reden. Auf der anderen Seite der Allee stand sein leeres Haus, aber er konnte den Gedanken allein zu sein nicht
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