Sündenfall: Roman (German Edition)
Krimiserien der Achtziger – sein Vokabular um einige farbenfrohe und ungewöhnliche Sprachbilder bereichert hatten.
Der Auftrag schien keine große Herausforderung zu sein: Die Eltern zu Hause wurden unruhig, weil die Tochter seit ein paar Wochen nicht angerufen hatte. Stets ging es um ein junges Mädchen, natürlich »gottesfürchtig und anständig« – noch nie hatte er gehört, dass eine Ausreißerin als kapry ś na bezeichnet worden wäre –, und das Ergebnis war vorhersehbar: Die Vermisste lebte mit ihrem Freund in irgendeiner heruntergekommenen Einzimmerwohnung in Sünde. Für gewöhnlich weinte sie ein bisschen, trauerte um ihre verlorene Jungfräulichkeit und versprach, sich bei ihrer Mama zu melden.
Er musste daran denken, dass Kasias Leben einen ganz ähnlichen Lauf genommen hatte, als sie nach Abschluss ihres Studiums nach London gekommen war. Sie hatte ihm erzählt, sie sei damals Gruftie gewesen, eine dieser Jugendlichen, die sich anzogen wie Zombies und sich Metallstäbe durch die Zunge bohrten. Trotzdem war sie ein anständiges, gebildetes Mädchen gewesen und hatte in einer polnischen Konditorei in Kensington gearbeitet. Abends hatte sie Englisch gelernt, in der Hoffnung, einen Job als Assistentin in der Filmindustrie zu ergattern und eines Tages selbst Regie zu führen. Doch dann hatte sie einen großkotzigen Cockney und idiota namens Steve kennengelernt, der sie mehr oder weniger überredet hatte, alles hinzuwerfen und mit ihm zusammenzuziehen. Sie würden ihre eigene Firma gründen, er würde ihr eine Super-8-Kamera kaufen, damit sie Filme drehen könne, bla , bla , bla . Und was noch schlimmer war: Sie hatte den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen, weil diese die Beziehung abgelehnt hatte.
Naturalnie war aus Steves hochfliegenden Plänen nichts geworden, und Kasia hatte erst in einem Pub und später in Clubs in Soho gekellnert, bis sie schließlich ihren derzeitigen Job – eine himmelschreiende Beschönigung – als exotische Tänzerin ergattert hatte. Vor nicht einmal zehn Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass ein seriöses polnisches Mädchen eine solche Tätigkeit ausübte, dachte Janusz, doch angeblich verdiente sie damit dreimal so viel wie als Bedienung, und außerdem schränkte ihr gebrochenes Englisch ihre Alternativen zugegebenermaßen drastisch ein.
Das Polka befand sich an der Ecke eines eleganten georgianischen Häuserblocks, einige Straßen nördlich von St. Stanislaus. Das große Fenster und die grün und weiß gekachelte Fassade verrieten, dass das Lokal ein erstes Leben als Gemüsehandlung geführt hatte. Nun waren die Fenster, ein wenig unpassend, mit gerüschten Vorhängen aus pflaumenblauer Seide versehen.
Die Türglocke läutete dreimal schrill. Die alte Dame, die öffnete – Janusz schätzte sie auf siebzig bis fünfundsiebzig –, trug eine ebenfalls gerüschte kirschrote Seidenbluse, die zu den Vorhängen passte, und klimpernden Goldschmuck. Janusz wäre jede Wette eingegangen, dass ihre kunstvoll aufgetürmte blonde Dauerwelle das Werk von Hair Fantastic war, dem Friseursalon im Viertel, der auch als Kommandozentrale aller furchterregenden polnischen Matriarchinnen im Norden Londons fungierte.
» Dzie ń dobry , Pani Tosik«, sagte Janusz und vollführte eine altmodische Verbeugung. Er war fest entschlossen, sich von seiner manierlichsten Seite zu zeigen, denn ihm war zu seinem Bedauern klar geworden, dass die ihm von seinen Eltern eingebläute Höflichkeit im Laufe der Jahre durch die Arbeit auf der Baustelle und die Grobheit, die seine derzeitige Tätigkeit manchmal erforderte, ein wenig gelitten hatte.
»Kommen Sie doch herein, mein Lieber!«, flötete Pani Tosik. »Wie reizend, einmal Herrenbesuch zu haben. Ich kannte Ihren Vater in Danzig. Das war nach dem Krieg. Gott schenke seiner Seele Frieden.«
Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, musterte ihn und nickte dann kurz und entschlossen.
» Tak . Sie haben sein gutes Aussehen geerbt – und vermutlich auch seinen Charakter.«
Sie bat ihn herein. »Möchten Sie einen Kaffee? Und tort . Natürlich! Alle mögen Kuchen.«
Janusz folgte Pani Tosik, deren Absätze auf dem Linoleum klapperten, ins dämmrige, nach Zimt riechende Lokal.
Die alte Dame ließ ihn auf einer mit Samt bezogenen Bank in dem überladenen Raum Platz nehmen, dessen Wände von Ölgemälden mit polnischen ländlichen Szenen geziert wurden. Während sie Kaffee kochte, nahm Janusz sich die Gazeta Warszawa vom Nebentisch.
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