Sündenfall: Roman (German Edition)
»›Vergesst die Vergangenheit und schaut in die Zukunft‹, sagt Zamorski seinen Wählern« , lautete die Schlagzeile. Das Foto darunter zeigte einen Mann mittleren Alters, der eine nachdenkliche und dennoch entschlossene Miene zur Schau trug: Edward Zamorski, Präsidentschaftskandidat und Chef der Renasans-Partei.
Als Pani Tosik zurückkehrte, stand Janusz auf, um ihr das Tablett mit Kaffee und Kuchen abzunehmen. Sie wies mit dem Kopf auf das Foto. »Was halten Sie von unserem nächsten Präsidenten?«, fragte sie, während sie Kaffee in die handbemalte Porzellantasse aus Oppeln einschenkte.
»Ich habe ihn einmal bei einer Kundgebung in Danzig sprechen gehört – das war vor Einführung des Kriegsrechts, also muss ich etwa siebzehn gewesen sein«, erwiderte Janusz und hob die Tasse an die Lippen. Seine Finger fühlten sich an dem zarten Henkel klobig und unbeholfen an. »Ich weiß noch, wie er sich, über unsere Köpfe hinweg, direkt an die ZOMO wandte. ›Wenn man den Knüppel gegen einen polnischen Landsmann erhebt, wird der Schlag die eigene Seele treffen‹ , sagte er.«
Er erinnerte sich an noch etwas. Zamorski hatte seinen Zuhörern erklärt, wenn das Land voranschreiten wolle, seien Versöhnung und Vergebung, selbst gegenüber den verhassten Milizen, nötig, nachdem die Freiheit erst errungen sei. Als hitzköpfiger Jugendlicher hatte Janusz das nicht verstanden und sich sogar über diese Worte geärgert. Doch nach den Geschehnissen einige Jahre später ertappte er sich dabei, dass er immer öfter darüber nachdachte.
Seufzend machte Pani Tosik eine Handbewegung, die gleichzeitig Bedauern und Schicksalsergebenheit ausdrücken sollte. »Ihr jungen Leute habt die Kommunisten davongejagt«, sagte sie. »Und dafür ein Land bekommen, das von multinationalen amerikanischen Konzernen regiert wird. Die Tochter meiner Freundin ist Lehrerin in Warschau. Wie viel, glauben Sie, verdient sie wohl im Jahr?«
Janusz schüttelte den Kopf.
»9.000 Euro!« , zischte Pani Tosik. »Deshalb bleibt den jungen Leuten nichts anderes übrig, als nach London zu kommen, obwohl das hier nichts für junge Mädchen ist.«
Das war ihr Stichwort, um ausführlich von der verschwundenen Kellnerin zu berichten, nur unterbrochen vom Gewinsel des winzigen Yorkshireterriers, der neben ihr auf der Bank saß und bettelte.
»Weronika kam vor sechs Monaten hierher. Im November. Nein! Nicht im November, mein Lieber, im Oktober « – als ginge die Verwechslung auf sein Konto. »So ein hübsches Mädchen. Eine Schönheit sogar.« Sie riss die blauen Knopfaugen auf, um ihre Worte zu unterstreichen. »Wie … Grace Kelly, nur moderner angezogen, Sie wissen schon. Ja, Tinka, du bekommst ein bisschen Napoleonka , weil deine Mama dich lieb hat.«
Sie brach etwas von dem rosafarben glasierten Blätterteiggebäck ab und gab es dem Hund, der es hinunterschlang und ihr die Krümel von den Fingern leckte. Mit der noch feuchten Hand nahm sie noch ein Stück und legte es auf Janusz’ Teller, offenbar ohne das Zusammenzucken ihres Gegenübers zu bemerken.
»Richtiger polnischer Kuchen«, verkündete sie. »Nicht das Zeug, das die Engländer als Kuchen bezeichnen – ›Mr Kipper‹ etcetera .« Sie griff nach einer rosafarbenen Sobranie-Zigarette und beugte sich zur Flamme von Janusz’ Feuerzeug vor.
»Jedenfalls war sie ein anständiges katholisches Mädchen. Sehr fleißig und sehr gut erzogen. Nicht wie einige der englischen Mädchen. Mit denen gibt es immer Probleme! Die eine trinkt und kommt immer zu spät. Die Nächste erwartet ein Baby.«
Janusz trank einen Schluck Kaffee und nickte.
»Also beschäftige ich inzwischen nur noch Polinnen. Und ich kenne sogar die Mama von diesem Mädchen. Weronika ist bei mir gut aufgehoben, sage ich zu ihr. Und dann, puff , löst sie sich eines Tages einfach in Luft auf.«
Die Augen der alten Dame füllten sich mit Tränen. »Ich fühle mich entsetzlich, Panie Kiszka. Ich kann nachts nicht schlafen, ich bringe kaum etwas runter …« Ein scharfer Blick abwärts. »Schmeckt Ihnen die Napoleonka nicht?«
Janusz trennte ein Stück mit der Gabel ab, trank aber nur einen Schluck Kaffee.
»Hatte sie einen Freund?«
Pani Tosik umfasste Janusz’ Unterarm mit erstaunlich kräftigen Fingern. »Nein! Keinen Freund, habe ich ihrer Mama versprochen. Sie ist zu jung. Erst neunzehn. Sie schläft immer hier, oben, wo ich sie im Auge behalten kann. Und ich sorge dafür, dass sie jede Woche einmal zur konfesja geht. Ich
Weitere Kostenlose Bücher