Sündenfall: Roman (German Edition)
Ganzen dem Prinzip des gewaltlosen Widerstandes gefolgt waren, hatte das kommunistische Regime wie vorausgesehen mit Knüppeln und Gewehren darauf geantwortet. Möglicherweise wäre Janusz ja ein ebenso guter oder sogar erfolgreicherer Physiker als sein Vater geworden – ein hoch angesehener Professor an der Universität von Danzig. Doch kurz nachdem General Jaruzelski das Kriegsrecht ausgerufen hatte, hatte der junge Mann das Studium abgebrochen und sich in den abenteuerlichen Kampf für die Demokratie gestürzt, der auf den Straßen tobte.
Und dann, ebenso Hals über Kopf, war er nach England verschwunden und hatte die junge Frau im Stich gelassen, die er erst wenige Wochen zuvor geheiratet hatte. Als er in St. Stanislaus erschien, war er eindeutig eine gequälte Seele gewesen, und obwohl er sich Pater Pietruzki nie anvertraut hatte, stand eines fest: Was auch immer damals geschehen sein mochte, es lastete bis heute auf ihm.
Der Priester betrachtete den kräftigen Mann mit den traurigen Augen, der ihm gegenübersaß. Dieses Kind Gottes würde wohl niemals ein sonderlich frommer Katholik werden, doch eines wusste Pater Piotr genau: Er hatte eine christliche Seele. Und wenn die neue Regierung – mit Gottes Willen – gewählt war, würden Männer wie er hoffentlich nach Hause zurückkehren, um ihr Land aufzubauen.
Er beugte sich vor und berührte Janusz an der Hand.
»Vielleicht habe ich einen kleinen Auftrag für dich«, sagte er. »Etwas, das honorowy ist, damit du nicht auf die schiefe Bahn gerätst und auch einmal deinen Verstand benutzt. Pani Tosik hat mich in der Beichte darauf angesprochen.«
Janusz zog eine Augenbraue hoch.
»Und hat mir ausdrücklich gestattet , außerhalb des heiligen Beichtstuhls darüber zu sprechen. Eines der Mädchen, eine Kellnerin in ihrem Restaurant, ist verschwunden.«
»Mit der Kasse?«
»Nein, nein, sie ist ein gottesfürchtiges Mädchen«, erwiderte der Priester. »Sie hat immer die masa besucht. Sie ist erst seit ein paar Wochen hier, bedient im Lokal und arbeitet gelegentlich als Model.« Wieder zog Janusz die Augenbraue hoch und grinste hinter seiner Rauchwolke.
»Ja, eine sehr schöne junge Frau, aber ein gutes Mädchen und fleißig. Vor zwei Wochen hat sie sich in Luft aufgelöst, und Pani Tosik ist außer sich vor Sorge. Naturalnie will sie nicht die Polizei einschalten.«
Janusz nickte verständnisvoll. Ob Polen nun von Natur aus obrigkeitsfeindlich eingestellt waren oder ob es an vierzig Jahren brutaler Fremdherrschaft lag – jedenfalls neigten sie nicht dazu, Polizisten den roten Teppich auszurollen.
»Und? Vielleicht hat sie ja einen Freund gefunden, der mit dem Umbauen von Lofts ein Vermögen verdient«, antwortete er und schnippte eine dicke Aschensäule von seiner Zigarre.
»Mag sein, doch ihre Mutter zu Hause hat nichts von dem Mädchen gehört, und Pani Tosik hat ein schrecklich schlechtes Gewissen. Sie möchte sie unbedingt finden.« Er sah Janusz in die Augen. »Und sie bezahlt gut.« Janusz konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, so verschmitzt war der Augenausdruck des alten Mannes, als er seinen Trumpf spielte.
Einen Vermissten aufzuspüren war Schwerstarbeit und erforderte außerdem, dass man Ewigkeiten mit der U-Bahn durch die Stadt kurven musste, was Janusz verabscheute. Doch es war allgemein bekannt, dass Pani Tosik schwerreich war, und er konnte das Geld sehr gut gebrauchen.
Pater Pietruzki leerte sein Glas und stand auf, um zum Tresen zu gehen.
»Jedenfalls habe ich dich vorgeschlagen – Gott, vergib mir.«
ZWEI
D er Himmel über der Themse war zwar von einem sanften, milchigen Blau, doch ein eiskalter Wind peitschte Constable Natalie Kershaw ins Gesicht, während das Einsatzboot über das stahlgraue Wasser raste. Als das Boot unter der Tower Bridge hindurchfuhr, hallte das Dröhnen seines Motors von den eisernen Stützpfeilern wider. Der uniformierte Fahrer musterte verstohlen Kershaws Profil und ihr blondes, zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengefasstes Haar und überlegte, ob er es wagen konnte, sie auf ein Glas einzuladen. Vermutlich besser nicht – sie sah aus, als hätten Männer bei ihr nichts zu lachen; typisch Kriminalpolizistin eben.
Kershaw war in Gedanken ganz weit weg, bei ihrem Dad, und sie suchte das Südufer nach dem Dock von Bermondsey ab, wo er in den Sechzigern als Lagerarbeiter Kohle geschleppt hatte – sein erster Arbeitsplatz. Er hatte es ihr von einem Touristenboot aus gezeigt, ein Ausflug vor ein
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