Sündenfall: Roman (German Edition)
Zögern, Ben eine SMS zu schicken. Wenn er ihr nämlich als Erster irgendein rührseliges Liebesgeflüster sendete, würde sie womöglich noch schwach werden. Viel zu viel getrunken letzte Nacht!!! , tippte sie. War toll, aber wahrscheinlich keine gute Idee! Nx . Sie hoffte, dass sie ihren Standpunkt damit freundlich klargemacht und somit jeglicher Gefahr von rachsüchtigen Gerüchten vorgebeugt hatte – nicht, dass Ben der Typ dafür war. Hoffte sie .
Während Kershaw sich in der überfüllten U-Bahn an der Haltestange festklammerte, wurde ihr klar, dass sie am gestrigen Abend zum ersten Mal seit Wochen unterwegs gewesen war, wenn man die Biere mit den Kollegen nicht mitzählte. Auch wenn ihre Augen brannten und sie ein dumpfes Pochen im Hinterkopf hatte – ganz zu schweigen von der peinlichen Aussicht, Ben im Büro gegenübertreten zu müssen –, fühlte sie sich auf seltsame Weise belebt. Außerdem hatte ihr Kater noch ein seltsames Ergebnis: Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, dass etwas im Waveney Hotel, oder zumindest mit den dortigen Überwachungskameras, nicht ganz koscher sein konnte.
Während Kershaw in der U-Bahn mit der Rushhour kämpfte, fuhr Janusz in einem zu zwei Dritteln leeren Bus durch die helle Morgensonne nach Gorodnik. Als die Vororte von Danzig von frühlingsgrünen Feldern und Birkenwäldern abgelöst wurden, spürte er, wie die Niedergeschlagenheit, die ihn seit Justynas Tod im Griff hielt, allmählich von ihm abfiel.
Am Vorabend hatte er in einem kleinen Hotel in einer Seitenstraße unweit des Busbahnhofs eingecheckt und sich eine Pizza kommen lassen – das Einzige, was frei Haus geliefert wurde, denn er hatte nicht riskieren wollen, dem Mann mit dem Ledermantel noch einmal in die Arme zu laufen. Beim Aufwachen am nächsten Morgen spürte er, dass das schlechte Gewissen auf ihm lastete wie eine zu schwere Daunendecke, und ihm wurde klar, dass er noch etwas erledigen musste, bevor er die Stadt verlassen konnte.
Am Friedhof Lostowicki ging er zum Familiengrab der Kiszkas, wo er Blumen auf die Gräber von Mama und Tata legte. Wie oft hatte er sie seit seiner Flucht nach England gesehen? Höchstens sechsmal in zwanzig Jahren. Vater war zuerst gestorben, Mama folgte ihm wenige Monate später. Nun hatte er nicht mehr die Möglichkeit, den Schaden wiedergutzumachen. Er stand da und erinnerte sich an ihre alten, abgearbeiteten Gesichter, in denen er nie auch nur den Hauch von Vorwurf oder Tadel gelesen hatte, und das Bedauern überkam ihn mit einer solchen Wucht, dass ihn kurz schwindelte.
Als der Bus die Felder und verstreuten Höfe hinter sich ließ und der Wald zu beiden Seiten der Straße dichter wurde, konnte er hin und wieder zwischen den Stämmen ein Stückchen Preußischblau erkennen – die Seen! Er wurde von Aufregung ergriffen.
Der Bus spuckte seine Fahrgäste mitten in den Markttag von Gorodnik. Die Buden in der Nähe des Busbahnhofs waren mit ihren Haufen von massenproduzierten Turnschuhen, grellbunten Süßigkeiten und billigen Socken nur daran von denen in London zu unterscheiden, dass die Händler mandelförmige Augen und blauschwarzes Haar hatten – polnische Tataren. Doch als Janusz sich dem eigentlichen Marktplatz näherte, fühlte er sich an die Einkaufsexpeditionen mit seiner Großmutter erinnert. An einer Bude besiegelte ein Händler gerade den Verkauf eines zeternden Huhns, dessen magere Beine und Flügel mit Schnur zusammengebunden waren. An einem anderen verkaufte eine knopfäugige alte babcia in bunt gemustertem Kleid und Gärtnerschürze wilden Knoblauch, Schnittlauch in Töpfen und Tomatenpflanzen, vermutlich aus dem eigenen Garten. »Möchten Sie etwas kaufen, Panie ?«, fragte sie, als er an ihrem Stand stehen blieb. Er brauchte einen Moment, um ihren breiten kaschubischen Akzent zu verstehen, doch ihr fordernder Ton war unüberhörbar. Also erstand er für ein paar Münzen eine spitze Papiertüte mit Radieschen, die er beim Weitergehen knabberte wie Süßigkeiten.
Gorodniks kopfsteingepflasterter Marktplatz befand sich im Schatten einer beeindruckenden gotischen Kirche aus Backstein, einer kleineren Version der Marienkirche in Danzig. Ein großes Plakat kündigte ein Konzert mit Werken von Paderewski an. Wenn man den geschäftigen Marktplatz verließ, wurde die Stadt staubig und leblos, und viele der verrammelten Läden machten den Eindruck, als würden sie nie wieder eröffnen. Das Hotel Pomorski – die babcia hatte ihm gesagt, dass es als
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