Sündenfall: Roman (German Edition)
faszinierenden Pathologiemodul«, sagte sie und sah ihn an. Er zuckte zusammen. »Ich habe einfach vergessen, wen ich da vor mir habe, und ihm von einem Fall von Kindstötung erzählt.«
»Tolle Anmache.«
»Keine Ahnung, was in mich gefahren war.« Sie schüttelte den Kopf. »Und so habe ich mich darüber ausgelassen, das Gehirn eines Babys sei so weich, dass das Labor es wochenlang in einem Fixierbad härten müsse, bevor man Proben nehmen könne. Im nächsten Moment sprang der Typ so plötzlich auf, dass er sein Weinglas über den Tisch schüttete, und flüchtete aufs Klo.« Halb lachend, halb peinlich berührt, schlug sie die Hände vors Gesicht. Ben schüttelte den Kopf und grinste über ihren Fauxpas. Sie nahm noch einen Schluck Wein. »Er ist nicht mehr zurückgekommen. Aber wenigstens hat er die Rechnung bezahlt, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat.«
Nach einigen weiteren Gläsern fragte er, ob sie noch Lust habe, zum Chinesen zu gehen. Der Ausdruck in seinen Augen, bevor er zur Seite blickte, war ziemlich leicht zu entschlüsseln – an den Vorschlag waren keine Bedingungen geknüpft, doch wenn es ums Dessert ging, lag der Ball auf ihrer Seite des Spielfelds. Sie flüchtete sich aufs Klo, wo sie sich am Waschbecken das Gesicht wusch, die Wangen einzog und sich selbstkritisch im Spiegel betrachtete. Die Augen ein wenig gerötet, aber noch vorzeigbar, wenn man auf den zerzausten Look stand. Sie mochte Ben wirklich. Eigentlich war es das erste Mal seit Mark, dass sie einen Mann überhaupt wahrnahm .
Aber . Das dicke, fette »Aber« war nun einmal Begleiterscheinung ihres Berufs, dachte sie. Die Fußangel des Lebens als Polizistin. Abgesehen von den Bösewichten hatte man nur Kontakt zu Kollegen – doch mit einem Kollegen zu schlafen kam absolut nicht in Frage, zumindest nicht für eine Frau.
Sie beugte sich über das Waschbecken und hielt ihrem Spiegelbild eine strenge Standpauke. »Weißt du noch, was passiert ist, als du zum letzten Mal mit einem Kollegen im Bett warst? Das ging durchs ganze Revier, und zwar so schnell wie eine Dosis Abführmittel. Willst du dich wieder den pubertären Witzen und den hämischen Kommentaren aussetzen? Nein, ich glaube nicht.«
Diese Ansprache war das Erste, was ihr einfiel, als sie kurz nach Morgengrauen im Halbdunkel aufwachte. Sie sonnte sich in der Erinnerung daran, wie vernünftig sie gewesen war, bis sie sich umdrehte und die Jalousien bemerkte – sie hatte zu Hause Vorhänge. Dazu das Profil eines Mannes – Ben. Im nächsten Moment rauschte der Rest der Nacht wie im Zeitraffer über ihre Netzhaut. Knusprige Ente mit Pfannkuchen und noch mehr Wein in Chinatown … zuckende Schatten auf der Tanzfläche zu Human League bei irgendeiner Achtziger-Retronacht … Küsse im Taxi auf dem Weg zu Bens Wohnung … Herumgefummel und Sex auf dem Sofa und dann noch einmal – VIEL besser – in seinem Bett .
Bei der Erinnerung, wie gefährlich nah sie davor gewesen waren, einander schon im Lift hinauf in die Wohnung an die Wäsche zu gehen, zuckte sie zusammen – zum Glück hatte sie die Überwachungskamera noch rechtzeitig bemerkt.
Sie wurde von dem übermächtigen Drang zu fliehen ergriffen, bevor Ben aufwachte. Also schlüpfte sie vorsichtig, ein Bein nach dem anderen, unter der Decke hervor und sammelte am Tatort im Wohnzimmer Kleider und Handtasche ein. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass nichts Belastendes zurückgeblieben war, zog sie sich an – bis auf die Schuhe, in die sie erst im Aufzug schlüpfte – und stand sechs Minuten später wohlbehalten auf dem Gehweg.
Erst jetzt bedauerte sie es ein wenig, dass Ben die hübschen braunen Augen aufschlagen und ein leeres Bett vorfinden würde. Reiß dich zusammen , dachte sie. Die ganze Sache war ein Riesenfehler. Ben war zwar wirklich ein lieber Mensch, doch eine Beziehung mit einem Kollegen im selben Revier anzufangen war Wahnsinn. Sicher würde es sich rasch herumsprechen, und dann konnte sie sich auf anzügliche Witze und Tratsch gefasst machen – bis ans Ende ihrer Tage.
Sie brauchte weitere zehn Minuten, um herauszufinden, dass sie sich in Wanstead befand, einem grünen Vorort voller kleiner Läden, die antiken Krimskrams verkauften. Schließlich entdeckte sie ein Café, wo sie sich einen genießbaren dreifachen Milchkaffee für die U-Bahn-Fahrt nach Hause besorgte – vier Stationen mit der Central Line in westliche Richtung nach Mile End. Bevor sie im Untergrund verschwand, beschloss sie nach kurzem
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