Sündenflut: Ein Merrily-Watkins-Mystery (German Edition)
sehen, weil er gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden war.
Ah
…» Steve hob den Zeigefinger. «Klar. Er war ja bei der Polizei. Ein ehemaliger Kollege von Ihnen?»
«Das war vor meiner Zeit», sagte Bliss. «Aber er ist natürlich ein Freund von mir. Ein guter Freund.»
Bliss parkte hinter der Goal Street und blieb noch eine Weile im Auto sitzen. Eine seiner Hände zitterte. Lag vielleicht am Kaffee und an dem ausgefallenen Mittagessen.
Die Ziege hatte ihn schon wieder ausgeschlossen. Nur durch Karens Anruf wusste er, dass Aylings Körper gefunden worden war. Von Howe war keine Meldung gekommen, nicht einmal via Brent.
Hier ging es um mehr als Shahs Sohn. Und dass er Howe nicht sofort über den Ayling-Mord informiert hatte, konnte auch nicht der einzige Grund für ihr Verhalten sein. Hier ging es um Charlie, das war sicher.
Trotzdem, Howe konnte ihn mal, er würde um halb drei dort sein. In letzter Minute in die Schule kommen, sodass ihn weder Howe noch Brent abfangen konnte. Am besten kam er ein bisschen zu spät. Er würde den richtigen Moment abwarten und dann beiläufig erklären, welche Bedeutung es möglicherweise hatte, dass Aylings Körper ausgerechnet im Wye aufgetaucht war.
Warum nur der Körper und nicht auch der Kopf? Das konnte er nicht erklären, aber das spielte keine Rolle,
irgendetwas
war dran an der Sache.
Dann sah Bliss, dass etwas halb unter den Beifahrersitz gerutscht war. Ein kleines, zerfleddertes Buch.
Er beugte sich hinüber und hob es auf.
Mein kleines Pony
. Es gehörte Naomi. Einen Moment lang konnte er nicht atmen.
Was hatte er nur getan?
Naomi. Siebeneinhalb Jahre alt. Mit allen guten Eigenschaften ihrer Mutter, aber ohne deren schwierige Seiten. Bliss lehnte sich zurück, hielt das Buch auf den Knien fest und schloss die Augen. Selbst wenn er versuchte, nur Kirstys schwierige Seiten zu sehen, erinnerte er sich doch an diese zärtlichen Augenblicke unterhalb dieses weißen Pferdes in Wiltshire. Damals hatte er das sichere Gefühl gehabt, dass alles stimmte, dass sie die Richtigen füreinander waren.
Was war passiert? Wohin war dieses Gefühl verschwunden?
Er setzte sich auf, legte das Buch ins Handschuhfach, stieg aus, schloss das Auto ab und ging weg. Er fühlte sich einem Zusammenbruch näher denn je.
26 Altmodische Maskerade
Sobald Merrily geklingelt hatte, zuckte sie erschrocken zurück.
Die Eingangstür war neu. Aus teurem, poliertem Hartholz. In eine Eichentafel waren die Worte ‹Cole Barn› geschnitzt.
Merkwürdig desorientiert machte sie einen Schritt von der Tür zurück. Sie sah sich um, ohne irgendetwas wiederzuerkennen. Als wäre sie wie im Traum hierhergekommen, hätte die falsche Abzweigung genommen, wäre ins falsche Zimmer gegangen.
Niemand kam an die Tür.
Sie atmete entschlossen aus und wandte sich ab. Ließ nur die Anspannung nach, oder war das Erleichterung?
Aber das war egal. Geh weg. Geh nach Hause. Du hast noch mal Glück gehabt.
Allerdings wollte Merrily aus irgendeinem Grund nicht auf demselben Weg zurückgehen.
Auf einer Erhebung am oberen Ende der mit einer Hecke eingefriedeten Koppel befand sich ein Zauntritt, über den man auf Coleman’s Meadow gelangte und über den sich jetzt der Kran des Fernsehteams neigte. Wenn sie auf diesem Weg zurückging, hätte sie wenigstens Jane etwas zu erzählen.
Der Regen ließ wieder nach, es wurde kühler. Als sie über das durchweichte Feld ging, rückte der glockenförmige Cole Hill in ihr Blickfeld, der sich auf der anderen Seite der Weide erhob.
Von hier aus wirkte seine Form einfach perfekt, beinahe als würde er in der Luft schweben. Zum ersten Mal nahm Merrily bewusst wahr, wie atemberaubend dieser Anblick wäre, wenn davor die Megalithen stehen würden.
Sie blieb stehen, merkwürdig bewegt, berührt von einer
Verbindung
. Waren das die Gefühle, die Jane die ganze Zeit hatte? Würde Jane das als heidnisches Bewusstsein bezeichnen? Aber so oder so war klar, dass die Zerstörung dieses Blicks durch Lyndon Pierce’ Pseudo-Tudor-Luxushäuser mit Doppel- und Dreifachgaragen eine unverzeihliche Beleidigung sowohl der Lebenden als auch der lange, lange Verstorbenen wäre.
Und das war kein Mythos. Es war die einzige Gewissheit, die Merrily schon den ganzen Tag lang fühlte.
Sie stieg über den Zauntritt und betrat Coleman’s Meadow neben einem schwarz-gelben Truck, auf den der Kran montiert war.
Daneben standen auf dem Pfad zwei streitende Männer; der eine starrte den anderen
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