Sündenkreis: Thriller (German Edition)
gekommen war. Es kam selten vor, aber manchmal bedrohten Klienten Mitarbeiter. Notknöpfe gab es nicht, und so waren die Kollegen immer darauf eingestellt, sich bei Gefahr gegenseitig beizustehen. Die ersten beiden – es waren Frauen mittleren Alters – sahen sehr schnell, dass es hier nichts mehr beizustehen gab. Eine von ihnen machte drei Schritte seitwärts und begann zu würgen, die andere zeigte über Sibylle Leitsmanns Schulter stumm auf das Arrangement vor Gerda Saiblings Schreibtisch und rang dabei nach Luft. Ein Mann eilte herbei, drängte die Kollegin beiseite und schaute ebenfalls in das Zimmer, ehe er mit einem »Verflucht!« nach Sibylle Leitsmann, die noch immer in der Tür stand und wimmernd auf das Szenario vor sich zeigte, griff, um sie aus dem Raum zu ziehen.
Ein bitterscharfer Geruch hatte sich im Raum ausgebreitet und reizte die Nasenschleimhäute der Menschen, die fassungslos auf das schreckliche Bild starrten. Auf dem rechten Schreibtisch türmten sich wild übereinandergestapelte Aktenberge, davor saß oder besser, hing Gerda Saibling auf ihrem Drehstuhl, den Körper zur Tür gewandt, sodass ihr verzerrtes Gesicht mit den blutigen Augenhöhlen und der bläulich hervorquellenden Zunge den ersten Besucher des Tages begrüßte. Dunkel verkrustete Rinnsale waren über die Wangen nach unten gelaufen und verliehen dem aufgequollenen Gesicht einen clownartigen Anstrich. Der Mund stand halb offen, oben sah man eine Reihe weißer Zähne, dazwischen die Zunge wie einen überblähten rotblauen Ballon. Gerda Saibling sah aus, als wäre sie schon seit ein paar Stunden tot.
Rumpf und Arme waren mit Klebeband an Rückenlehne und Armlehnen befestigt. Auf der Stirn der Toten standen lateinische Wörter, um den Hals hing ein weißes Schild mit der Aufschrift: »Verzeiht mir. Ich war untätig und habe Schuld auf mich geladen.«
30
Lara klappte den Briefkasten zu und verschloss ihn, dann betrachtete sie die auf den Ausdruck geklebte Haftnotiz. »Hier der Wessel-Text. Musste zu einem Job, sorry. Ruf dich später an, Jo.«
Sie würde sich wohl oder übel nach ihrem Arztbesuch allein auf Spurensuche begeben müssen. Nach dem Aufstehen hatte sie eine SMS auf ihrem Handy gefunden, in der Jo ihr geschrieben hatte, sie solle in ihren Briefkasten schauen, bevor sie aus dem Haus ging. Auf dem Weg zum Auto überflog Lara den lateinischen Text und verstand kein einziges Wort. Es half alles nichts, Reinmann musste noch einmal ran und ihn übersetzen, auch auf die Gefahr hin, dass er allmählich dahinterkam, woher die Botschaften stammten. Auf der Fahrt zum Arzt würde sie den Sektenbeauftragten anrufen und ihn um einen Termin bitten, möglichst noch heute. Und nach dem Arztbesuch würde sie mit den geplanten Nachforschungen zu den Opfern beginnen. Hoffentlich dauerte Jos »Job« nicht zu lange. Heute Nachmittag hatten sie zuerst die Holic -Leute noch einmal aufsuchen und dann gemeinsam das Haus der Holländer-Sekte beobachten wollen, und sie verspürte keine große Lust, sich allein in ihrem auffälligen gelben Mini vor dem Tor zu postieren und auf Sektenmitglieder zu warten. Als sie gerade auf den Parkplatz der Arztpraxis fuhr, klingelte das Handy. Jo legte ohne Begrüßung gleich los. »Das glaubst du nicht! Im Polizeifunk kam vor zwei Stunden eine ominöse Meldung, die ich verdächtig fand. Sie haben zwar nicht direkt von einer Leiche gesprochen, aber ich kenne doch die internen Kürzel!«
»Eine Leiche?« Lara spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten.
»Ich bin sofort hingefahren, nachdem ich dir den Ausdruck in den Briefkasten gesteckt hatte. Ins Verwaltungszentrum in Gohlis, oder besser gesagt, bis vor das Verwaltungszentrum. Reingekommen bin ich nämlich nicht. Da war ein Riesenaufruhr. Menschenmassen, Gaffer und haufenweise Kriminalpolizei und Spurensicherung.«
Eine einsame Schneeflocke wehte aus dem steingrauen Himmel herab und ließ sich auf der Windschutzscheibe nieder. Lara betrachtete die winzigen strahlenförmigen Verzweigungen und hörte Jo zu, der von der toten Frau aus dem Jugendamt berichtete.
»… war auf dem Stuhl festgebunden und hatte ein Schild um den Hals hängen, auf dem sinngemäß stand, dass sie um Verzeihung bitte.«
»Eine Mitarbeiterin des Jugendamtes?« Eine zweite Schneeflocke kam herbeigesegelt und landete neben der anderen. Die Strahlen wurden durchsichtig und zerflossen. »Vielleicht war es einer ihrer Klienten?«
»Das glaube ich nicht.« Im Hintergrund
Weitere Kostenlose Bücher