Sündenkreis: Thriller (German Edition)
sieben Hauptlaster als ›Todsünden‹ zu bezeichnen, auch wenn es umgangssprachlich oft analog verwendet wird. Die genannten Charaktereigenschaften sind lediglich die Ursache von Sünden, sie können also zu Sünden führen. Die Sünden wiederum werden in schwere und lässliche Sünden unterteilt. Mit dem Begriff Todsünde oder peccatum mortiferum werden nur bestimmte, besonders schwerwiegende Sünden wie Mord, Ehebruch oder Glaubensabfall bezeichnet.«
»Was unterscheidet denn die lässlichen von den schweren Sünden?«
»Dafür gibt es drei Kriterien.« Stefan Reinmann hob die Hand und richtete nacheinander den Daumen und dann den Zeige- und den Mittelfinger auf. »Erstens muss ein schwerwiegender Verstoß gegen die Zehn Gebote vorliegen. Zweitens muss der Sünder die Todsünde mit vollem Bewusstsein begehen, das heißt, er erkennt die Schwere der Sünde bereits, bevor er sie begeht. Und drittens muss er sie aus freiem Willen begehen, im Katechismus heißt das ›mit bedachter Zustimmung‹.«
»Ich frage mich die ganze Zeit, was die fünf Toten mit den jeweiligen Todsünden verknüpft.« Lara hatte aufgehört zu schreiben und betrachtete ihre Auflistung. »Der Tote von heute früh ist ziemlich eindeutig zuzuordnen. Er war fett und hat anscheinend maßlos gelebt. Ihm wurde gula – die Unmäßigkeit – auf die Stirn geschrieben. Dann hätten wir die sogenannte ›Bankleiche‹. Robert Wessel war Immobilienberater, und seine Leiche wurde in einer Bankfiliale gefunden.«
Der Sektenbeauftragte nickte gedankenverloren. » Avaritia , die Habsucht. Das passt zu ihm. Auf dem Mädchen aus der Modenschau stand superbia ?« Er wartete nicht, bis Lara antwortete, sondern fuhr fort. »Das bedeutet, sie muss eitel und hochmütig gewesen sein. Das wäre ›Stolz‹.«
»Genau. Von Nina Bernstein, dem Opfer, das in der Heuerswalder Kirche gefunden wurde, wissen wir nicht viel. Sie sagten, › luxuria‹ sei die Wollust. Wahrscheinlich hat sie sexuell ein wenig über die Stränge geschlagen.«
»Das ist anzunehmen.«
»Ich frage mich, welche der drei noch fehlenden Todsünden auf der Stirn dieser Jugendamtsmitarbeiterin stand.« Lara ging die sieben Begriffe nacheinander durch. » Es fehlen Neid, Zorn und Trägheit.«
»Was wissen Sie denn über diese Frau?«
»Nichts. Ich kann ihr keins der Attribute zuordnen.«
»Bei all diesen Opfern hatte doch der Fundort etwas mit ihren Verfehlungen zu tun, oder?« Stefan Reinmann drehte das Glas in der Rechten. Der Portwein leuchtete im Licht der Stehlampe dunkelrot. »Und diese Frau wurde in ihrem Amt gefunden.«
»Direkt am Schreibtisch. Um ihren Hals hing ein Schild, dass sie um Verzeihung bittet.«
»Deutet das nicht darauf hin, dass sie sich im Rahmen ihrer Tätigkeit etwas hat zuschulden kommen lassen? Vielleicht hat sie ihre Aufgaben nicht ernsthaft erfüllt.«
»Das würde auf die ›Trägheit‹ hindeuten. Ich nehme das mal als Arbeitshypothese.« Lara schrieb das Wort hinter den Namen der vierten Toten. »Wie wird diese Todsünde in Ihrem Katechismus genannt? Und welcher Dämon gehört dazu?«
» Acedia und Belphegor .« Der Sektenbeauftragte buchstabierte beide Wörter.
»Jetzt frage ich mich …« Lara ließ das Notizbuch sinken und schaute den Sektenmann an. »Wer ist der oder die Nächste?«
»Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach.« Stefan Reinmann trank mit einem langen Zug sein Glas leer. Lara tat es ihm nach.
36
»Quarzkristall!« Romain Holländer beobachtete, wie Melinda Weiß’ Augenlider flatterten. Sie seufzte einmal kurz, und ihre Schultern sackten herab.
»Wie fühlst du dich?«
»Gut.« Die Augen der Frau waren nur halb geschlossen. Sie saß in dem bequemen Sessel, den Hinterkopf an die Lehne gestützt, die Arme lagen locker auf den Oberschenkeln, die leicht gekrümmten Handflächen zeigten nach oben.
»Wir müssen uns unterhalten, Melinda. Über Frieder Wörth.«
»Frieder.« Das Gesicht der Frau entspannte sich merklich. Ein kleines Lächeln erschien. Es war nicht zu übersehen, dass sie etwas für den Mann empfand. Obwohl er in ihr anscheinend nichts anderes als ein Gemeindemitglied sah. Romain Holländer wiederholte einige Suggestionen. In den letzten Tagen war so viel zusätzliche Arbeit über ihn gekommen, dass er die Befragung von Melinda Weiß immer wieder aufgeschoben hatte. In den Briefen, die sie ihm jeden Abend unter der Tür durchschob, stand nichts von Belang. Frieder Wörth verschwand nicht jeden Abend aus dem Haus.
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